Heft 861, Februar 2021

Als der Homo oeconomicus kurz verschwand

Oder: Braucht Demokratie unseren Glauben? von Maud Meyzaud

Oder: Braucht Demokratie unseren Glauben?

Als nach zweihundertfünfzig Jahren Bestand die Schule sich im späten Winter 2020 vorübergehend verabschiedete und der Homo oeconomicus eine Weile von der politischen Agenda verschwand, als die Zeit eingefroren und die Welt auf Zeit unbewohnbar wurde, feierten wir jeden Abend im Familienkreis.

Wir zelebrierten dreißig Jahre Neoliberalismus. Wir wollten nichts davon wissen, dass Geister nicht sterben können, und beerdigten diesen, den neoliberalen Geist, in dessen Schatten wir, die Eltern, die Älteren, zunächst aufgewachsen, dann aber auch älter geworden waren, in Würde. Wir stellten jeden Abend das kleine Musikgerät auf den Esstisch und suchten auf dem Tablet nach den Spuren dieses nun vergangenen Lebens, in dem die Bewerbung um einen Job in der Gastronomie oder im Kulturbereich unser Glaubensbekenntnis, das Vorstellungsgespräch unser Erscheinen vor dem Jüngsten Gericht gewesen waren. Wir suchten nach etwas, das diese Jahre, in denen jede und jeder von uns im akuten Bewusstsein davon gelebt hatte, aus systemischen Gründen ersetzbar zu sein, für uns dennoch unverwechselbar gemacht hatte. Ein kalifornischer Konzern bot seine Dienste an, und wir begannen mit unserer idiosynkratischen Sammlung von Songs und Videoclips. Nach unserer Zeitrechnung hatte alles in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts angefangen; irgendwo in den zehner Jahren des 21. Jahrhunderts blieben wir hängen.

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