Heft 868, September 2021

Am Stammtisch der Sachlichkeit

Markiertes Sprechen in Deutschland von Diedrich Diederichsen

Markiertes Sprechen in Deutschland

In der großen Pause

Die Deutschen oder besser die Deutschsprachigen diskutieren, seit sie nicht mehr oder nur eingeschränkt vor die Tür gehen können, das, was sie Identitätspolitik nennen. Vorher hatte es das auch schon gegeben, und es hat ähnlich geklungen, aber es hat nicht so viel bewirkt; denn es gab ja noch die so genannte soziale Realität da draußen, in der jede und jeder sich immer schon irgendwie eingerichtet hatte. In der Covid-Zeit, in der es diesen Sicherheitsanker nicht mehr gab, glaubten all die NZZ- und Welt-Leser tatsächlich, sie dürften ihren Lieblingsbeschäftigungen nicht mehr ungestört nachgehen, weil eine woke Kulturpolizei es ihnen verbietet: etwa dem leidenschaftlichen Übersetzen afroamerikanischer Slampoetry. Anders als in den meisten Kulturen der Welt sind es nicht soziale Medien, universitäre Debatten oder offen politisch geführte Auseinandersetzungen, die das Medium der Deutschsprachigen und ihrer Streits ausmachen. Es ist das, was nur noch in ihrer Kultur einen hohen Wert und gesellschaftlichen Einfluss hat, das Feuilleton. In diesem haben bestimmte Männer das Sagen, die gern im Genre des Machtworts etwas zurechtrücken. Vielleicht irre ich mich, aber ich könnte schwören, dass man Machtworttexte wie die der diversen Chefs von Welt oder FAZ weder in El Pais noch in der New York Times loswerden würde.1

Neben den Machtworten bestimmen die scheinbar rein formalen Diskursanalysen das Geschehen: Cancel Culture, Spaltung der Gesellschaft, Täter-Opfer-Umkehrung, Whataboutism, Opferkonkurrenz – lauter Slogans, die Debattenteile wegen vermeintlich formaler Merkmale diskreditieren, ohne nach dem jeweiligen Inhalt zu fragen. Ohne dieses und jenen zu canceln, kommt die Menschheit natürlich keinen Schritt weiter, aber auch jeder für sich wird von einem Autor keinen weiteren Artikel lesen, dessen letzte zehn ohne jeden Gewinn waren. Unmögliche Personen und Ideen sind von denjenigen, die ihnen als unmöglich erschienen, schon immer aussortiert worden. Eine gespaltene Gesellschaft ist einer zu 100 Prozent verblödeten ja wohl vorzuziehen. Und welche Identität und gegen wen? »What about« kann eine Frage nach einer geeigneten Vergleichsgröße sein oder ein Ablenkungsmanöver, die Klassifizierung erklärt gar nichts. Nein, aber Markus Lanz ist sehr stolz, dass er alle Tiere aus diesem Bestiarium der Rhetorik benennen und vermeiden kann.

Das Kulturleben der ganzen Welt, man erkennt das an den (überwiegend visuellen) Kunstformen, die tatsächlich auf der ganzen Welt präsent sind und diskutiert werden, macht eine massive, und es ist vielleicht nicht einmal falsch zu sagen: revolutionäre Veränderung durch, die auf zwei bis drei Ebenen läuft, die miteinander verschränkt sind. Auf einem Makrolevel stellt sich in allen kulturellen Bereichen die Frage, was von ihnen legitimerweise übrigbleiben kann, wenn sie im weiteren Sinn ganz dekolonisiert sein werden. Welche Vorstellungen von Geschichte, Fortschritt, Zukunft, Modernität, Ökologie würden eine Revision der eurozentrischen Philosophie und Geschichtsschreibung überleben?

Auf einem Mesolevel betrifft das die Zusammensetzung, Firmenpolitik, Hierarchien, Karrierewege und Autoritäts- und Legitimitätsbegriffe der kulturellen Institutionen – denn das ist ja meistens der wahre Hintergrund von normativen, als »Darf man noch?« übersetzten Fragen; dass diese Debatten institutionelle Konsequenzen haben, die sie früher, als sie an verschiedenen gegenkulturellen und minoritären Orten auch schon geführt wurden, nicht hatten. Und schließlich betrifft es auf einem Mikrolevel Diskussionen um die Legitimität von Personen, wie sie etwa von #MeToo angestoßen wurden: also auch die gerne als besonders lächerlich ausgeflaggten Storys, in denen eine afroamerikanische Jungredakteurin von ihrem Job zurücktritt, weil sie als Fünfzehnjährige in einem High-School-Zine eine antiasiatische Bemerkung gemacht hat, für die sie sich bereits hundertmal entschuldigt hat. Das Besondere und Merkwürdige an dieser gewaltigen Umwälzung ist, dass großflächiges bis utopisches politisches Denken (und Spekulieren) mit Mikro-Battles und vermeintlich kleinlichem Gekämpfe mindestens ko-extensiv ist und dass im selben Maß der gewaltige Entwurf neuer Welten jenseits von Kolonie, Kapitalismus, Maskulinismus und Anthropozentrismus eine Fortsetzung in alltäglicher Realpolitik findet – eine aufregende Verbindung von Groß und Klein, wie es sie zuletzt um 1968 gab.

Im deutschsprachigen Raum ist das nach meinem Eindruck vor Covid nur fragmentarisch oder von Spezialisten rezipiert worden, vor allem auch weil deutsche Institutionen gar nicht daran dachten, dass man sie weniger weiß und weniger deutsch auslegen könnte – allein das ewige Angsthaben, dass man irgendwas nicht mehr darf, was nie ein Mensch verboten hat, zeugte von einer verwirrten Erschütterung. Es blieb also allenfalls beim Makrolevel. Der Verlust dieses deprimierend provinziellen deutschen Alltags durch die Covid-Krise hat vielleicht zu der panischen Erkenntnis geführt, dass die Wiedereinrichtung des Lebens nach dem Ende der Pandemie womöglich grundsätzliche Veränderungen zeitigen könnte. Und tatsächlich gab es hier und dort ein paar personalpolitische Einschnitte, mussten Personen sich rechtfertigen, und das Menetekel der Cancel Culture wurde an die Wand gemalt; ziemlich hilflos. Dann erst dämmerte den Deutschen, dass sie noch einen anderen Pfeil im Köcher hatten, um sich des Ansturms der Dekolonialisierung zu erwehren: den Holocaust. Den kann uns keiner nehmen. Das ist unsere Identitätspolitik.

Die zwei Querfronten

Ende 2020 sah ich den Antisemitismus-Beauftragten Felix Klein in einem Interview der TV-Station »Euronews« vor dem Hintergrund irgendwelcher aufgebrachter Bürger. Er wiederholte darin seine richtige und von vielen geteilte Einschätzung, dass die Corona-Leugner mit Verschwörungstheorien arbeiten, die auf den jahrhundertealten Tropen des europäischen Antisemitismus basieren: Brunnenvergiftung, Kindsmorde und so fort. Dann wies er auf die unscharf gestellten Menschenmengen hinter ihm und erklärte, sinngemäß, dass dort Links- und Rechtsextreme demonstrierten, die Träger dieses zeitgenössischen Antisemitismus. Dessen Neuheit bestehe exakt in dieser Beteiligung linker und rechter Antisemiten. Da dachte ich, nun ist sie komplett, die neue Querfront, die zweite Querfront, die sich hier vor der Silhouette der ersten, schon seit Jahren und lange vor Covid auffälligen Querfront ins Bild schiebt.

Die erste Querfront – Stichworte: Ken Jebsen, Reichsbürger, Xavier Naidoo, versprengte Antiimperialistinnen, Putin-Freunde, Anthroposophinnen, Tier- und Naturfreunde und jede Menge Antisemiten – ist seit den Revivals von Montags- und Kriegsgegnerdemos der frühen und mittleren zehner Jahre aktenkundig. Vulgäre Kapitalismuskritik mischte sich mit Verschwörungstheorie, völkischem Nationalismus und einigen Verbindungs- und Dynamisierungselementen aus dem Arsenal des Action- und Superheldenkinos (Chemtrails, Bill Gates als Ernst Stavro Blofeld etc.). Zur ersten Querfront gesellten sich auch weniger offensichtlich verrückte, aber ähnlich unappetitliche Phänomene wie die Versuche einer rechten Fraktion der Linken um Leute wie Sahra Wagenknecht und Bernd Stegemann und der »Aufstehen!«-Bewegung, sich Zuspruch bei deutschen Arbeitern und AfD-Wählern gegen zu viel Zuwanderung zu holen. Und ihre Ethnografie wäre unvollständig, wenn man nicht die Geister erwähnte, die immerzu von dem Bedürfnis heimgesucht werden, mit Rechten reden zu wollen. Diese ziellose und diffuse erste Querfront musste nicht einmal sehr viel an Personal und Weltanschauung modifzieren, um sich dann mit dem langersehnten großen Thema – Corona – stabil zu formieren.

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