An der Seite Israels
von Jonas RosenbrückIrrwege und Sonderwege
Seit den brutalen Attacken der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Krieg Israels im Gazastreifen hat sich auch das internationale Bild Deutschlands geändert. Als einer der engsten Verbündeten Israels wird Deutschland verstärkt mit dessen Politik und Kriegsführung assoziiert und erhält für diesen Schulterschluss sowohl Lob als auch Tadel. Scharfe Kritik kam zum Beispiel vom (inzwischen verstorbenen) namibischen Präsidenten Hage Geingob angesichts der deutschen Positionierung »an der Seite Israels« vor dem Internationalen Gerichtshof. Deutschlands Verteidigung Israels gegen Südafrikas Vorwurf, Israel begehe Völkermord im Gazastreifen, sei eine »schockierende Entscheidung«, die Deutschlands »Unfähigkeit« anzeige, »Lehren aus seiner schrecklichen Geschichte zu ziehen« – gemeint war hier der deutsche Genozid im heutigen Namibia von 1904 bis 1908.
Eine zunehmende globale Isolierung lässt sich auch am Abstimmungsverhalten der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ablesen; hier steht Deutschland gegen eine sehr klare Mehrheit. Bei vielen Künstlerinnen und Künstlern und Intellektuellen nicht nur im Globalen Süden gilt es inzwischen als ausgemacht, dass in Deutschland jede Perspektive, die Kritik an Israel übt, als antisemitisch gebrandmarkt und unterdrückt wird. Die Initiative »Strike Germany«, ein Aufruf an alle Kulturschaffenden, Deutschland aufgrund seiner »Repression« zu boykottieren, wird nicht nur von der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux unterstützt, tatsächlich sahen sich Veranstaltungen wie die Berlinale, die Berliner Transmediale und andere Ausstellungen mit (einer allerdings überschaubaren Zahl von) Absagen konfrontiert.
Auf die Kritik an Deutschland lassen sich zwei Antworten geben. Die erste, in der deutschen Presse verbreitet, sieht diese Phänomene als Auswüchse eines postkolonialen Diskurses, der weder Israels noch Deutschlands historische Position und moralische Verpflichtungen versteht. Die zweite Antwort würde solche Ereignisse nicht (oder nicht nur) als Irrwege begreifen, sondern als Hinweis auf ein wirkliches Problem in der deutschen Beziehung zu Israel.
Sicher berechtigt ist die Kritik an Vertretern der Linken, die mit Begriffen unscharf operieren und »Lumping« betreiben, wie es Stefan Hirschauer formuliert hat: Israel wird undifferenziert als »settler colonial« oder gar »weißer« Staat dargestellt. Das geht an der komplexen Geschichte dieses Landes vorbei. Zu einer solchen sowohl intellektuell als auch politisch fragwürdigen Unzulänglichkeit mancher linker Diskurse hat Hannah Arendt bereits 1965 in einem immer noch lesenswerten Austausch mit Hans Magnus Enzensberger entscheidende Punkte genannt. Sie geißelt »einen scheinbaren Radikalismus, der nicht so sehr das Kind mit dem Bade ausschüttet als vielmehr durch Parallelen, bei denen sich irgendein Generalnenner darbietet, vieles Partikulare unter ein Allgemeines subsumiert«. Eine Spielform solchen Subsumierens ist etwa die Identifikation aller jüdischen Menschen mit dem Staat Israel – manchmal fallen dann Kritik an Israel und Antisemitismus zusammen.
Diese Zuflucht zu einem undifferenzierten »Generalnenner« (settler colonialism, whiteness etc.) ist mit einem weiteren Manko des israelkritischen Diskurses verwandt: der Unfähigkeit oder dem Unwillen, historisch-politische Narrative zu entwickeln, die präzise und behutsam komplexe und scheinbar widersprüchliche Tatsachen artikulieren. Etwa die, dass man in der Vorgeschichte der israelischen Staatsgründung sowohl Flüchtling als auch Siedler sein konnte oder dass historischer Opferstatus und aktueller Täterstatus sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern miteinander verwoben sein können. Der Slogan »It’s not complicated«, der bei den vielbeachteten Protesten an der Berliner Universität der Künste zu hören war, ist schlicht falsch. Doch, es ist kompliziert: Die Sicherheit jüdischer Menschen auf der ganzen Welt zu gewährleisten, ist kompliziert; ebenso kompliziert sind die Verknüpfungen von Schoah, Judenvertreibungen, Zionismus und Nakba oder die Tatsache, dass Israelis sowohl historische Traumata als auch das Trauma des 7. Oktober und der andauernden Geiselnahmen in sich tragen und gleichzeitig palästinensische Menschen traumatisieren können.
Auffällig ist aber auf der anderen Seite auch die Vehemenz, mit der weite Teile der deutschen Öffentlichkeit jeder Israelkritik wie auch der Sorge um das Wohl der Palästinenser begegnen: Was bedeutet es, wenn die Welt einen Podcast mit Free Palestine ist das neue Heil Hitler betiteln kann? Welche Verschiebungen und Projektionen sind hier am Werk? Wie kann es sein, dass Kinder, die ein Palästinensertuch tragen, also ein Kleidungsstück, das seit Jahrzehnten in Deutschland präsent ist, plötzlich eine solche Gefahr darzustellen scheinen, dass sie von Schulleitungen gegängelt werden müssen? Was bedeuten die Absagen an jüdische und nichtjüdische Kulturschaffende wie Masha Gessen, Candice Breitz, Adania Shibli oder Ghassan Hage, deren Meinungen nicht mit den in der Öffentlichkeit dominierenden übereinstimmen? Ein Land, das sich seiner Position in der aktuellen Krise sicher wäre, hätte einen derartigen, in vielen Institutionen wirksamen Konformitätsdruck nicht nötig und mit einer pluraleren Diskussionskultur kein solches Problem.
Der Zionismus vom Standpunkt seiner Opfer
In ihrem Austausch mit Enzensberger schlägt Arendt einen Ausweg aus der Gefahr des »scheinbaren Radikalismus« des »Generalnenners« vor: »Man kann ihr begegnen durch den immer erneuten Versuch, sich am Konkreten festzuhalten.« Ein solches Festhalten würde erfordern, sich weniger für die kleinteilige Diskursregulation (wer unterschreibt welchen offenen Brief?) als für die materiell-strukturelle Lage im Nahen Osten zu interessieren, und zwar in einem doppelten Sinn. Erstens würde dies neben der – richtigerweise – immer wieder stattfindenden Untersuchung und Verurteilung der Aktivitäten der Hamas auch die explizite Benennung und moralische Evaluierung der Effekte der aktuellen Kriegsführung Israels erfordern. Denn in gewisser Hinsicht ist diese Bewertung aufgrund der Positionierung Deutschlands »an der Seite« Israels wichtiger: Deutschland ist materiell und symbolisch mit den israelischen Kriegsaktionen verstrickt, nicht aber mit denen der Hamas; deshalb ist die Bewertung Ersterer dringlicher.
Zu diesen konkreten Fakten gehören, zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Essays (Anfang März 2024): mehr als 30 000 von Israel getötete Palästinenser, mehrheitlich Frauen und Kinder; die Zerstörung aller Universitäten im Gazastreifen; der fast komplette Zusammenbruch des Gesundheitswesens; die Zerstörung von bis zu 80 Prozent aller Zivilwohnungen in gewissen Gebieten, »a pace and level of devastation that likely exceeds any recent conflict, destroying more buildings, in far less time« laut der Washington Post; die öffentlichen Aussagen israelischer Politiker, den Gazastreifen ethnisch säubern zu wollen; die Gefahr einer schrecklichen Hungerepidemie; die glaubwürdigen Vorwürfe wegen Kriegsverbrechen der Israel Defense Forces (IDF). Ist es wirklich vertretbar, all das durch symbolische Solidaritätsbekenntnisse und materielle Waffenlieferungen zu unterstützen? Um es zugespitzt, aber richtig zu formulieren: Inwiefern gehört die Unterstützung des Tötens Tausender Kinder zur deutschen Staatsräson?
Als Antwort auf diese Fragen hilft es wenig, auf die Hamas zu zeigen und so Israel (und damit auch Deutschland) aus der Verantwortung zu nehmen: Die Gräueltaten der Hamas sind eindeutig aufs Schärfste zu verurteilen und weder mit internationalem Recht noch moralischen Geboten vereinbar. Doch können sie nicht als carte blanche für israelische Aktionen dienen. Die Behauptung, dass Israel zu seiner Politik gezwungen wird und deshalb alternativlos handelt – so beispielsweise immer wieder die Betonung Netanjahus –, stellt Israel als hilflosen Spielball dar und spricht dem Staat seinen Status als Subjekt mit einem (selbstverständlich begrenzten) Handlungsspielraum ab. Weder Hamas (wie manche Vertreter der globalen Linken behaupten) noch Israel wurden vom jeweils anderen zu ihren Handlungen gezwungen.
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