Heft 900, Mai 2024

Anatomie der Gewalt

Zum Israel /Palästina-Konflikt von Avner Ofrath

Zum Israel /Palästina-Konflikt

Die beispiellose Brutalität, die in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023 in Israel /Palästina entfesselt wurde und seither nicht abreißt, erfordert ein neues Vokabular und Verständnis der Wurzeln, der Dynamik und der Motive der Gewalt vor Ort, aber auch der globalen Reaktionen darauf. Noch nie in der einhundertjährigen Geschichte dieses zutiefst asymmetrischen Konflikts wurden Zivilisten auf beiden Seiten so explizit, massenhaft und grausam angegriffen; noch nie klafften in westlichen Universitäten, Medien und Kulturbetrieben Bilder, Vorstellungen und Grundannahmen rund um den Konflikt so schnell, so weit, so unüberwindbar auseinander; noch nie stellten die Folgen des Konflikts eine derart unmittelbare Gefahr für den Frieden ganzer Gemeinden in Europa und Nordamerika dar: Weltweit sind vor allem jüdische, aber auch muslimische Menschen, Gemeinden und Einrichtungen einer Welle des Hasses ausgesetzt.

Trotz heftiger Auseinandersetzungen ist zu entscheidenden Fragen in diesem Konflikt in den letzten Monaten irritierend, ja besorgniserregend wenig gesagt worden. Stattdessen sind Analytisches und Konkretes dem Hyperbolischen gewichen. Ein beispielhafter Moment dieser intellektuellen Landschaft Anfang Dezember: Zwei Wochen nachdem eine Reihe prominenter, teils umstrittener Historikerinnen und Historiker in einem offenen Brief in der New York Review of Books dazu aufgerufen hatte, Vergleiche zwischen dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und dem Holocaust zu unterlassen, erschien im New Yorker ein Artikel von Masha Gessen, in dem wiederum der belagerte Gazastreifen mit den durch die NS-Besatzung errichteten Ghettos verglichen und behauptet wird, das »Ghetto« von Gaza werde nun »liquidiert«; die Provokation ging auf, eine Preisverleihung in Deutschland wurde abgesagt, dann trat die Katharsis des Eklats ein. Bisweilen scheint es, als wäre man in manchen Kreisen bereit, über alles zu diskutieren – nur nicht darüber, was konkret in Israel /Palästina geschieht, über die eigentliche Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Landes.

Fast 30 000 Menschen – mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung des Gazastreifens – sind bis Ende Februar 2024 der israelischen Kriegsführung zum Opfer gefallen, davon schätzungsweise rund 70 Prozent Frauen und Kinder. Tausende mehr liegen noch unter Trümmern und in Krankenhäusern, in denen sie kaum noch versorgt und behandelt werden können. Hunderttausende könnten in den nächsten Monaten an Krankheiten sterben, nachdem israelische Luftangriffe zivile Infrastrukturen zerstört und einen Großteil des Gazastreifens buchstäblich unbewohnbar gemacht haben. Berichte über eine katastrophale Hungersnot häufen sich und lassen den Verdacht auf eine gezielte Strategie des israelischen Militärs entstehen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat zwar nicht angeordnet, dass Israel seine Offensive beenden muss, den Verdacht auf Genozid jedoch auch nicht zurückgewiesen und Israel aufgefordert, zu beweisen, dass es keinen Genozid verübe. In dem Moment, da ich dies schreibe, ist von einer Offensive in Rafah die Rede, wo 1,5 Millionen Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen eine notdürftige Zuflucht suchen. Wie Recherchen der israelischen Tageszeitung Haaretz zeigen, würde die neue, von Israel eingerichtete »sichere Zone« entlang der Küste von Rafah bedeuten, dass sich diese Menschen auf unbestimmte Zeit auf dem Gebiet eines mittelgroßen Flughafens aufhalten müssten. Auf israelischer Seite sind die Zahl der zivilen Opfer und das Ausmaß der Zerstörung deutlich kleiner, aber ebenso beispiellos in der Geschichte dieses Konflikts. Etwa tausend Zivilisten wurden durch die Hamas am 7. Oktober massakriert oder nach Gaza verschleppt, Hunderte mehr verletzt und gefoltert. Ganze Ortschaften entlang der israelischen Grenze zum Gazastreifen sind restlos zerstört worden, viele andere – auch im Norden Israels sowie im südlichen Libanon – sind kriegsbedingt evakuiert worden.

Noch nie in der Geschichte des Israel /Palästina-Konflikts wurden Menschenleben so gleichgültig, so rücksichtslos behandelt wie in den letzten Monaten. Dies spiegelt sich auch in einem veränderten Sprachgebrauch. Der israelische Militärjargon hat schon vor Jahren den Begriff »Unbeteiligte« etabliert (statt »Zivilisten«). Wie der IGH in seiner Entscheidung zur Klage Südafrikas gegen Israel festgestellt hat, bedienen sich seit dem 7. Oktober zahlreiche, auch prominente israelische Politikerinnen und Politiker einer Rhetorik des Genozids und behaupten, es gebe keine »Unschuldigen« in Gaza. Vertreter der Hamas beteuern ihrerseits, Angriffe wie den vom 7. Oktober wiederholen zu wollen. In vielen arabischsprachigen Medien ist seit Jahrzehnten selten von israelischen »Zivilisten« und meistens von »Siedlern« die Rede, selbst wenn es um Bewohner des international anerkannten israelischen Staatsgebiets geht. Seit dem 7. Oktober hat sich dieser absurd vereinfachte Begriff des »Siedlers« nun auch in Teilen des Westens etabliert und die Vorstellung salon- und universitätsfähig gemacht, alle Israelis – sowie proisraelische Jüdinnen und Juden weltweit – seien legitime Ziele des »Widerstands« der Hamas. »Siedler sind keine Zivilisten«, urteilte etwa die Yale-Professorin Zareena Grewal gleich am 7. Oktober. Es ist diese Missachtung, diese Auflösung der Kategorie der Zivilisten, also der Unschuldigen oder Unbeteiligten, im Denken und Handeln aller beteiligten Akteure, die wir verstehen müssen.

Der Historiker Hillel Cohen hat überzeugend argumentiert, dass die Ausschreitungen im Sommer 1929 in zahlreichen Städten Palästinas – damals kraft eines Völkerbundmandats nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg unter britischer Herrschaft – als das »Jahr null« des Konflikts zu betrachten sind. Was in manchen historischen Darstellungen als eine palästinensische Rebellion gegen die Briten beschrieben wird, war in Wahrheit vielmehr ein Ausbruch von Gewalt an Zivilisten, dem ganze Gemeinden zum Opfer fielen. Was als ein Streit zwischen Juden und Muslimen um Gebetsordnungen an der Klagemauer beziehungsweise dem Ḥā'iṭ al-Burāq in Jerusalem begann, entwickelte sich innerhalb weniger Tage zu Ausschreitungen, die Zivilisten zuerst in Jerusalem und kurz darauf in etlichen anderen Städten betrafen. Insgesamt 133 Menschen der jüdischen Bevölkerung und 166 Menschen der muslimisch-christlich arabischen Bevölkerung kamen dabei ums Leben. Die Gewalt richtete sich nicht ausschließlich gegen neue zionistische Siedlungen, sondern vielfach gegen alteingesessene, nicht- oder sogar antizionistische jüdische Gemeinden in Städten wie Hebron im Süden oder Safed im Norden. Die Gemeinde von Hebron wurde dabei ausgelöscht (die israelischen Siedler im heutigen Hebron – einer der radikalsten Hochburgen der Siedlerbewegung – stammen nicht aus der alteingesessenen Gemeinde). Wie Cohen zeigt, hat die Gewalt von 1929 aus einem politischen Konflikt um zionistische Bestrebungen einen ethnisch-religiösen Konflikt gemacht.

Damals wie heute ordneten zahlreiche Beobachter die Gewalt von 1929 als eine weitere Etappe in einer langen Geschichte von Verfolgungen und Pogromen ein, als einen Ausbruch jenes Judenhasses, der in den mittelalterlichen deutschen Landen, im späten Zarenreich oder in Palästina immer wieder seinen Ausdruck fand. In diesem Sinne ist die Gewalt von 1929, wie auch der Arabische Aufstand von 1936 bis 1939, in die israelische Geschichtsschreibung eingegangen, bezeichnet mit dem hebräischen Pendant für »Pogrom«: Pera’ot. Hier wird bereits das fehlende Verständnis für die grundlegend verschiedenen Hintergründe der Gewalt in Europa und der im Nahen Osten sichtbar, das sich auch jetzt wieder zeigt. Zweifelsohne lässt sich eine Übernahme von Denkfiguren des europäischen Antisemitismus durch Vertreter der palästinensischen oder panarabischen Bewegung feststellen: Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Mufti von Jerusalem Amin al-Husseini, der während des Zweiten Weltkriegs sogar Unterstützung beim NS-Regime suchte, aber auch spätere Gruppierungen – nicht zuletzt die Hamas – haben die in Europa entstandene judenfeindliche Rhetorik und Vorstellungswelt für sich entdeckt (von weitverbreiteter Holocaustleugnung ganz zu schweigen). Dennoch darf dieser Umstand nicht über die konkreten Hintergründe der Gewalt im Israel /Palästina-Konflikt hinwegtäuschen. Hier handelt es sich nicht um eine von einer Mehrheitsgesellschaft verfolgte jüdische Minderheit, sondern um den Kampf zweier Nationalbewegungen um Land und Vorherrschaft, dessen konkreteste und ausdauerndste Manifestation ein israelisches System von Besatzung, Siedlungsausbau und stets voranschreitender Vertreibung und Verdrängung der palästinensischen Bevölkerung ist.

Der Versuch, Land durch Ansiedlung zu beanspruchen und zu verteidigen, ist entscheidend für die Dynamik der Gewalt an Zivilisten. »Wo die Pflugschar verläuft, wird die Grenze verlaufen«, lautete ein Motto der zionistischen Bewegung in den 1920er und 1930er Jahren. Gerade angesichts der britischen Teilungspläne, mit denen ab 1937 versucht wurde, einen Kompromiss zwischen der zionistischen und der palästinensischen Nationalbewegung zu finden, wurde das Schaffen von vollendeten Tatsachen durch die Gründung neuer Siedlungen zu einem zentralen Mittel der zionistischen Bewegung. So schreibt etwa der Historiker Benny Morris, ein prominenter Apologet des zionistischen beziehungsweise israelischen Handelns in den 1940er und 1950er Jahren: »Die Errichtung von Siedlungen war sowohl eine Frage der Ideologie als auch der Strategie […] Schließlich sollte das Siedlungsraster die Konturen und Grenzen des geplanten Staates bestimmen.« Viele der Kibbuzim, in denen die Hamas am 7. Oktober Zivilisten massakrierte, wurden in den 1940er und 1950er Jahren nach dieser Logik gegründet. Freilich war das Zusammenspiel aus ziviler Bevölkerung, Landwirtschaft und Grenzziehung keine alleinige Strategie der zionistischen Bewegung; die arabischen Armeen, die nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung in Palästina einmarschiert waren, zerstörten systematisch jüdische Siedlungen im Süden Palästinas und im Jordantal.