Heft 912, Mai 2025

Anima migrante

Versuch einer Philosophie des Flüchtlings von Ernest Mujkič

Versuch einer Philosophie des Flüchtlings

Unsereiner muss Wiederaufbauarbeit leisten. Wir sind so viele. Mir ist das nicht klar gewesen. Wir sind, hört man hier, mehr als angefordert. Wir missbrauchen, hört man dort, unser Freiheitsrecht, auszuwandern, um zu bleiben, um zu wohnen. Wir sind, heißt es allerorts, illegal. Wir sind Flüchtlinge. Wir sind nicht Gäste, die, Geschäftstätigen oder Touristen gleich, in ein anderes Land aufbrechen. Wir wollen bleiben, wir wollen wohnen, wir wollen leben. Wir sind Flüchtlinge, weil die Welt, in der wir zur Welt gekommen sind, uns keine Heimstätte (mehr) bietet. Vielleicht nie eine solche geboten hat. Wir sind Flüchtlinge, weil wir, von politischen Machthabern und ihren Helfershelfern vor Ort zum Feind und Freiwild erklärt, um unser Leben fliehen müssen. Wir sind Flüchtlinge, weil wir, in unserem Herkunftsland um den Lohn unseres täglichen Werks betrogen, verarmt und hungernd, um unser Leben fliehen müssen. Wir sind Flüchtlinge, weil wir, unser Frucht- und Festland verloren, um unser Leben fliehen müssen. Wir sind Flüchtlinge, weil wir, die Aussichtslosigkeit des morgigen aus der Erbarmungslosigkeit des gestrigen Tages kennend, um unser Leben fliehen müssen. Wir sind Flüchtlinge – einerlei, ob unbegleitet und minderjährig, begleitet und erwachsen, gebildet oder ungebildet, gebrechlich oder gesund –, wir sind Flüchtlinge, weil »die Staaten«, die wir verlassen müssen, »ohne Ausnahme schlechte Staaten sind«,1 weil diese Staaten untergehend oder untergegangen sind, weil wir, in diesen lebend, schon Staatenlose sind. Und doch müssen wir, wollen wir den Regularien gehorchen, uns bekennen. Wir müssen einsehen, dass wir falsche Migranten sind. Wir müssen uns schuldig bekennen, durch unsere Flucht an der illegalen Einreise teilgenommen zu haben. Wir müssen uns schuldig bekennen, dem Flüchtlingsbegriff nicht zu genügen. Wir müssen uns schuldig bekennen, irreguläre Migranten zu sein. Wir sind Flüchtlinge. Und doch sind wir es nicht. Nicht mehr. Wir sind weniger.

In der Übereinkunft der Internationalen Migrationskonferenz in London im Jahr 1889 hieß es »We affirm the right of the individual to the fundamental liberty accorded to him by every civilized nation to come and go and to dispose of his person or his destinies as he pleases«,2 und das stand schon im Widerspruch zu der ab dem 17. Jahrhundert zunehmenden Verwendung des Flüchtlingsbegriffs zur Bezeichnung von infolge politischer und militärischer Gewalt verfolgten Personen.3 Diese Grundfreiheit ist seit dem Ersten Weltkrieg, aber insbesondere seit der millionenfachen Ermordung und Vertreibung von europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg, dadurch eingeschränkt worden, dass Flüchtlinge laut Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) lediglich über eine »Flüchtlingseigenschaft« verfügen, weil der Flüchtlingsstatus nur einer Person zuerkannt wird, die aus »begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will«.

Auch Michael Walzer, dessen Ausführungen über die Mitgliedschaftszugehörigkeit zu den meistdiskutierten migrationsethischen Annahmen gehören, hat in Übereinstimmung mit Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) – wonach »niemand […], der wegen eines nicht-politischen Verbrechens oder wegen Handlungen strafrechtlich verfolgt wird, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen«, für sich das »Recht« in Anspruch nehmen kann, »in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen« – eine Verteidigung des Status quo und damit auch die Grenzschließung gegenüber Migranten im Allgemeinen und Flüchtlingen im Besonderen begründet.4 Wogegen Peter Singer allerdings eingewandt hat, dass diese »zu eng« gefasste Definition »das Problem hinweg[definiert]«, weil dadurch die existenzielle Notlage lediglich auf politisch bedingte – zumal die Verfolger den Verfolgten keine Verfolgungsbescheide ausstellen –, nur selten anerkannte Fluchtgründe zurückgeführt wird und andere – etwa ökonomisch und ökologisch verursachte – existenzielle Notlagen als Fluchtgründe ausgeschlossen sind.5

Die Freiheit einer jeden Gemeinschaft, und damit auch einer sich zur freiheitlichen Grundordnung bekennenden Gesellschaft, selbst zu bestimmen, wie viele Mitglieder sie hat, wie sie ethnisch und im weiteren Sinn kulturell und politisch beschaffen sein will, erlaubt es Walzer zufolge, Migranten und Flüchtlingen die Aufnahme zu verweigern. Den Flüchtlingen als »Opfern politischer und religiöser Verfolgung«, so schränkt er ein, seien alle politischen Gemeinschaften zwar auf der Grundlage des Prinzips der »gegenseitigen Hilfe«, das er als einziges legitimes »externes Prinzip für die Vergabe von Mitgliedschaft« betrachtet, zur Aufnahme verpflichtet. Von dieser Pflicht ausgenommen sind jedoch seiner Ansicht nach Gesellschaften, die nicht für die Not der Flüchtlinge (mit)verantwortlich sind. Außerdem erachtet er es auch in dem Fall, dass »ihre Zahl wächst und wir genötigt sind, unter Opfern auszuwählen«, für moralisch gerechtfertigt, wenn aufnehmende Gemeinschaften sich nach ethnischen, kulturellen und politischen Zugehörigkeitsaspekten die richtigen Flüchtlinge aussuchen. Auch wenn Walzer es nicht ausdrücklich sagt, legt sein Resümee es letztlich nahe, dass Staaten, in welche die genannten Flüchtlinge zu fliehen versuchen, trotz des völker- und menschenrechtlich bindenden Verbots des Refoulement (also der Abschiebung von politisch Verfolgten in die Staaten, aus denen sie fliehen müssen) letztlich selbst bestimmen dürfen, wer überhaupt als Flüchtling zu betrachten ist und damit als aufnahmewürdig gilt.

Vor dem Hintergrund dieser die Begriffe der Gemeinschaft und Gesellschaft nur vage unterscheidenden Bestimmung des nationalen Gemeinschaftsrechts liberaldemokratischer Rechtsstaaten auf Selbstbestimmung und der zunächst expliziten begrifflichen Trennung zwischen Migranten und Flüchtlingen erscheint es auch laut David Miller folgerichtig, zu beachten, dass, weil es eines »internen Zusammenhangs zwischen den kulturellen und materiellen Aspekten der Gemeinschaft«, sozusagen »einer verbindenden öffentlichen Kultur« um des Überlebens einer Gemeinschaft willen bedarf, das nationalstaatliche Recht auf Wahrung der »kulturellen Kontinuität« beziehungsweise »kollektiven Identität« berechtigterweise über dem Recht des Flüchtlings auf die Bewegungsfreiheit steht, das ihm zufolge kein »mitgliedschaftsspezifisches Menschenrecht« und damit lediglich ein »Ersatzrecht« sei, welches das Verlassen eines Landes völkerrechtlich garantiert, das Einreisen, Bleiben und Wohnen in einem anderen Land dagegen nicht.6

Dieses Recht der Gemeinschaft auf die »Vereinigungsfreiheit« impliziert wiederum Christopher Heath Wellman zufolge, dass »wohlhabende Länder ihre Grenze« so wenig »für weniger vermögende Immigranten öffnen« müssen wie »wohlhabende Paare ihre Ehen für schlechter gestellte Personen«.7 Zwar würden, wie Julian Nida-Rümelin hervorhebt, »Individualrechte Grenzen« ziehen, deren Überschreitung normativ unzulässig sei, also Grenzen, die es verbieten, Migranten und Flüchtlinge Gesetzen zu unterwerfen, die sich auf deren Existenz schädigend auswirken.8 Jedoch ist dieser Argumentation zufolge auch das moralische Gebot zu beachten, dass es eine »Solidaritätspflicht« gegenüber Gemeinschaften gibt,9 die es einem Individuum ermöglicht haben, sich überhaupt als Person zu konstituieren – einerseits die individuelle Pflicht zur Solidarität gegenüber der Familie und infolgedessen gegenüber dem Staat, auch ohne dass Personen dieser Verpflichtung freiwillig zugestimmt hätten, andererseits die Pflicht des liberaldemokratischen Rechtsstaats zur Solidarität gegenüber den Gemeinschaften, die seinen Bürgerinnen und Bürgern zur Selbstentfaltung verholfen haben, die den Staat zur Zurückweisung von Migranten und Flüchtlingen berechtigt.

Wenn man die individualrechtliche, auch körperliche Grenze der Bürgerinnen von Gesellschaften, in welche die Flüchtlinge fliehen (wollen), zur Begründung der kollektivrechtlichen, quasikörperlichen Grenze von ihre Interessen vertretenden Staaten erklärt, weil nur auf diese Weise deren notwendige »Quasi-Identität« als »Gemeinschaft«, mithin die »kollektive Handlungsfähigkeit« der liberaldemokratischen Rechtsstaaten, ermöglicht werden soll, lässt sich meines Erachtens aus dem Recht politischer Gemeinschaften auf die ethnische, kulturelle und politische Selbstbestimmung beziehungsweise auf die kollektive »Vereinigungsfreiheit« und aus der »Solidaritätspflicht« des Staates gegenüber seinen Bürgern folgerichtig die gegenwärtige, nicht nur europaweit dominierende, migrationspolitische Auffassung begründen, der zufolge die Zielländer von Flüchtlingen »keine Pflicht zur Selbstzerstörung« haben.10

Wir Flüchtlinge hätten natürlich Selbstmord begehen können. Auch ich – ein Flüchtling wie Hannah Arendt und Bertolt Brecht, wie Albert Einstein und Thomas Mann – auch ich, als Minderjähriger aus Bosnien und der Herzegowina im Winter des Jahres 1993 geflohen, nachdem die serbischen Freischärler und die Jugoslawische Volksarmee im Dienst serbischer Nationalisten sich an die Vernichtung und Vertreibung der bosnisch-herzegowinischen Muslime gemacht hatten, auch ich hätte mich – wie einst Walter Benjamin – also umbringen können, um mich zu befreien. Ich habe es nicht getan. Ich bin geflüchtet, um am Leben zu bleiben, um frei sein zu können.

Wir Flüchtlinge fliehen, um am Leben zu bleiben. Wir stehen vor der Grenze. Wir sind außergesetzlich. Wir sind falsch. Wir sind hier. Wir Flüchtlinge sind so lange und wieder hier. Am Hügel vor der Grenze, vor dem Recht. Wir laufen hinauf, dann und jedes Mal wieder hinab und zurück ins Tal. Die Straßenhunde sind unsere Zeugen. So geht es Nacht für Nacht, Jahr für Jahr. Wenn im Tal die Sonne aufgeht, bleibt der Tag fern von uns, so fern wie wir von der Grenze. Wir glauben an die Nacht, an jede kommende Nacht. Unseren Gottglauben haben wir sicherheitshalber der Sonne mitgegeben. Hinter und vor uns allnächtlich der Mond. Und die Hatz. Und die Schläge. Und die Schmerzen. Und die schreiende Stille in unseren verstummten Augen, die um gestohlene Tränen trauern. Wir sind, wir bleiben Grenzgänger. Wir sind, nicht nur juristisch, sondern auch existenziell unfrei. Und »je weniger wir frei sind zu entscheiden, wer wir sind […], desto mehr versuchen wir, eine Fassade zu errichten, die Tatsachen zu verbergen und in Rollen zu schlüpfen«.11 Wir wollen deshalb keine Flüchtlinge sein. Wir bekennen uns dazu, durch unsere Flucht Schuld auf uns geladen zu haben. Wir nehmen von einem Augenblick auf den anderen, mit dem ersten Schritt diesseits der Grenze und auf der Seite des Rechts, Abstand von uns selbst. Wir werfen mit unseren Kleidern auch unsere Lebenswelt ab und in den Müllcontainer. Wir wollen nicht wir, wir wollen keine Flüchtlinge, wir wollen reguläre Migranten sein. Wir wollen legal sein. Wir wollen eure Bedingung des Mensch- und Personseins erfüllen. Wir wollen euch nicht enttäuschen, nicht erzürnen.

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