Heft 854, Juli 2020

Aporien der Kritik

Eike Geisel und die Juden von Jakob Hessing

Eike Geisel und die Juden

»Der Skandal besteht darin«, schreibt Eike Geisel am 30. Oktober 1985 in der taz, »daß er zu keinem Zeitpunkt zu befürchten war: keine zweite Beate Klarsfeld trat mit einem gezielten Argument dazwischen, als der Bundeskanzler Montagabend in der Berliner Staatsbibliothek sich vor jüdischen Wissenschaftlern aus aller Welt die Absolution für Bitburg holte. Nur ein schwacher, vereinzelter Zwischenruf erinnerte daran, daß der Geschichtslüge von Bitburg, derzufolge Mörder und Opfer austauschbar seien, nun die Unverfrorenheit folgte, vor die Opfer zu treten.«

Der Artikel trägt den Titel Persilschein für Kohl und verurteilt seinen Auftritt vor den Historikern des Leo-Baeck-Instituts. Nach dem Oberrabbiner genannt, der den deutschen Juden unter Hitler noch im KZ zur Seite stand, erforscht das Institut an drei verschiedenen Orten – Jerusalem, London, New York – die deutsch-jüdische Geschichte. Ende 1985 trat es erstmals auf deutschem Boden zusammen, der Bundeskanzler beehrte es mit einer Ansprache, und Eike Geisel protestierte.

Schon im ersten Absatz eines Zeitungsartikels lernen wir sein Anliegen kennen, und die Form, in der er es vorbringt. Geisel prangert den Gedächtnisschwund der Deutschen an, ihre Geschichtsvergessenheit, und er tut es, indem er an das Gedächtnis seiner Leser appelliert. Die »Absolution für Bitburg« ist dabei noch einfach: Erst wenige Monate zuvor, am 5. Mai 1985, hatte Kohl gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besucht und eine Kontroverse losgetreten, als er dort auch den gefallenen Mitgliedern der Waffen-SS seine Reverenz erwies.

Besser musste man sich auskennen, um Geisels Wortspiel vom »gezielten Argument« zu verstehen, mit dem einst Beate Klarsfeld einem anderen Bundeskanzler entgegengetreten war. Gemeint ist die öffentliche Ohrfeige, die sie Kurt Georg Kiesinger erteilt und damit ihre Empörung bekundet hatte, dass ein ehemaliger, gar nicht so kleiner Nazi in der Bundesrepublik Regierungschef werden konnte. Das war 1968 gewesen, es lag schon siebzehn Jahre zurück, und diese Zeitspanne gehört zu den stillen Pointen des Artikels.

1968 – und danach

Auch Eike Geisel (1945–1997), wenige Monate nach dem Krieg geboren, gehört zur Generation der Achtundsechziger, aber das Gebot der Ideologiekritik erfüllt er nicht nur den Eltern, sondern auch seinen Altersgenossen gegenüber. Später ist bemerkt worden, wie sehr die aufmüpfigen Studenten ihren Eltern glichen,1 doch Geisel wusste das schon in Echtzeit: Ihre kritische Theorie hatten sie bei Juden gelernt – bei Adorno, Benjamin, Marcuse –, aber was man den Juden angetan hatte, war ihnen weniger bewusst.

Gegen dieses Vergessen hat Geisel immer angekämpft, und auch sein Protest gegen Kohls Auftritt vor den jüdischen Historikern ist so zu lesen. Während sie die Geschichte einer Katastrophe rekonstruieren, hält der Bundeskanzler ihnen eine Rede, verwischt den Gegensatz von Opfern und Tätern und wird dafür keine Ohrfeige mehr erhalten: Die Wiedervereinigung wirft ihre Schatten voraus, und Deutschland schickt sich an, in die Familie der Völker zurückzukehren.

Die Jahre nach 1968 waren Eike Geisels Lehrzeit, in der er sich nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart seines Landes auseinandersetzte. Ein jüngst erschienener, umfangreicher Sammelband verstreuter Schriften enthält viele seiner oft brillanten Polemiken, und im Nachwort beschreibt der Herausgeber Klaus Bittermann zuerst das Dogma, von dem Geisel sich schon bald befreit: »1975 ist Eike Geisel noch ein dezidierter Kritiker des Zionismus, wie es in der israelischen Linken viele gibt, an deren Diskussionen er teilnimmt, weil er Hebräisch spricht. Der Befreiungskampf der Palästinenser ist für ihn aus einer internationalistisch-kommunistischen Perspektive eine notwendige Folge der Unterdrückung durch den israelischen Staat.«2

Doch dann schaut er genauer hin. Den linken Antisemitismus entdeckt er bereits 1969 in einem Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin, und 1982 stellt er in einem längeren Artikel dar, wie Deutschlands Neue Linke und die Palästinenser einander gefunden hatten: Die PLO hatte erkannt, »daß in der Bundesrepublik ein historisches Entlastungsbedürfnis schlummerte, das es zu wecken galt. Damals, als die Jüdische Gemeinde in Berlin vorsätzlich mit dem israelischen Verteidigungsministerium verwechselt und zum Angriffsobjekt wurde und die Akteure mit Kefia und Kalaschnikov in Jordanien trainieren durften – damals entstand der neue Antisemitismus.«3

Solche Ideologiekritik war man auf der Linken nicht gewöhnt, und Geisels Denkstil lässt sich als eine Entfernung von der Truppe beschreiben. »Links« bedeutete für ihn, auf der Seite der Opfer zu stehen, und Opfer waren nicht nur die Palästinenser, sondern vor ihnen – und sehr viel massiver – schon die Juden. In seinen Publikationen thematisierte er das immer wieder und hielt den deutschen Lesern vor Augen, was sie lieber vergessen wollten.

Zerstörte Welten

Es ist kein Zufall, dass Eike Geisel Hebräisch sprach, die Beschäftigung mit den Juden zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. An der Lüneburger Universität hatte er als Soziologe gearbeitet, mit analytischem Blick nahm er ihre gesellschaftliche Gespaltenheit wahr. 1981 erschien seine Dokumentation über das Berliner Scheunenviertel,4 in dem zahlreiche Juden aus Polen und Russland seit dem Ersten Weltkrieg Zuflucht gefunden hatten. Im Berlin der Weimarer Republik bildeten sie eine eigentümliche Welt, und auch in anderen Texten schreibt er über die sogenannten Ostjuden.

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