Heft 847, Dezember 2019

Ariel in Kronach

von Marko Demantowsky

Keine Markenschildchen, auch keine herausgeschnittenen, kein Aufdruck. Die Nähte etwas unregelmäßig, wie von Hand gestochen. Ein Überschuss an Leder. Bis heute ein Innengeruch nur nach Leder, Tausende Kilometer Anstrengung, Genuss, Angst, Selbstvergessenheit und Überwindung, die vorüberziehenden Landschaften, alles hat sich nicht im Geruch festgesetzt, sondern nur in der zur zweiten Handfläche gewordenen Form und in den Schattierungen der Färbung eingeprägt. Weiß war dieses Leder nie, sondern hellgrau-weiß, die Ränder aber in weißem Leder abgesetzt. Auf dem rechten Handschuh und dessen mit Klettverschluss versehenem Riegel zeigen sich schwache Spuren einer rosafarbenen Flüssigkeit, ich rätsele seit vielen Jahren, wie diese Spuren darauf geraten sein könnten. Die ursprünglich glatten und weichen Handschuhe erscheinen mit ihren eingefurchten Lebensspuren bei näherer Betrachtung wie eine Mittelgebirgslandschaft, durchzogen von gefalteten Vertiefungen zwischen aufragenden, energetisch geformten Kämmen, von Licht und Schatten in allen Facetten.

(Wenn ich diese Handschuhe ansehe, sehe ich, wie schwer es mir fällt, das zu schreiben: Freiheit; wenn ich sie überziehe, dann ist es das letzte, was ich tue, bevor ich mich auf den Sattel schwinge. Die große Stadt ist wie eine Zwiebel, wenn man aus Zentrumsnähe nach draußen fährt, durchdringt man eine urbane Schicht nach der anderen, bis sie endlich wirklich da ist: die letzte Grenze der Agglomeration ins Ländliche, in die menschenarme Landschaft, zu den Feld- und Waldwegen, den Feldern, Wiesen, ins Alleinsein.)

Das Material dieser Handschuhe ist vom nordostafrikanischen Haarschaf, leichtpigmentiertes Nappaleder. Dieses Tier ist an das Leben in trockenen Steppen angepasst, seine Haut besonders dicht und widerständig. Es wurde in kleineren Herden gehalten und war über Jahrtausende die Lebensgrundlage der Hirtenfamilien dieser Region. Mitte der 1980er Jahre war das Leder wahrscheinlich aus Somalia eingeführt worden, das damals noch ein vergleichsweise friedliches Land war, jedenfalls hatte sich der Diktator Siad Barre seit der Kriegsniederlage 1977/78 dem Westen zugewandt und wirtschaftliche Beziehungen geknüpft. Die Handschuhe wurden anscheinend von der Firma Cicli-Franconi hergestellt, das habe ich mir aber gerade erst durch einen Bildvergleich klar gemacht, bald sind diese Handschuhe dreißig Jahre in meinem Besitz.

Cicli-Franconi, das klingt wie ein edles italienisches Traditionsunternehmen, es ist allerdings eine 1986 in Braunschweig von Frank Simon gegründete und bist heute angesehene Firma. Die Handschuhe dürften zu deren erster Garnitur gehört haben. Meine schriftliche Anfrage bei der Firma blieb unbeantwortet. Alte Bundesrepublik und ihre Italianità, mitten im wohnlich gewordenen Kalten Krieg, der bei Lederlieferanten beständig heiß und mörderisch war.

»Ein jeder Mensch muss seinen Ariel haben,

Den Geist, der pfeilschnell übers Wasser fegt,

Die Lüfte aufrührt, selber sturmbewegt« (b)

Samstagmorgen, 6.15 Uhr. Halb Nacht noch, halb Tag schon. Irgendein Geräusch riss ihn heraus. Als er die Augen aufschlug, schwer die Lider hebend, dann, es war wie eine Bewegung, schlaftrunken ans zugige große zweiteilige Fenster trat, von dem er den schmaleren Teil öffnete, war das, was er sah, ein einziges Schweres, Kaltes, Dunkelgraues, Körperliches. Es begann gerade etwas dunkelgrauer Himmel zu werden. Nasser Nebel waberte über dem abgelegensten aller Täler, reichte bis hinauf zu seinem modernen dreigeschossigen Plattenbau, den man dort in den Wald getan hatte, am Rande eines Dorfes, dessen Namen sich itzegründisch ausdrückende Bewohner auf unaussprechliche Weise artikulierten, auf Weisung aus der fernen Kapitale dort hingetan, vom jetzt noch unsichtbaren Dorfe führte ein militärisch befestigter Feldweg steil bergan zum Ende hin. Sechs Grad Celsius zeigte das Thermometer über der voluminösen Nebeldecke, die erst nach und nach sich von dem Darüber scheiden ließ. Alles eins, worauf er von dort nun, gerade seinem blau-weiß genormt kleinkarierten Lager entstiegen, höchlichst verwundert blickte; er stellte sein linkes Bein auf einen Heizungsabsatz und stützte seine rechte Hand auf den Fenstersims – dass das ein komisches Bild geben musste, in seinem Schlafanzug und zwischen all den leeren Bier- und wenigen Wodkaflaschen, aufgefüllten Aschenbechern, billigen Keksschachteln, das musste ihn nicht kümmern, die resttrunkenen Kameraden atmeten schwer im Schlaf. So hatte er es an keinem andern der bisherigen 163 Morgen dort gesehen, das Tal seines Landes, das hineinragte ins Ende der Welt, hart grenzend an die Kämme der umliegenden Höhenzüge, 406 Meter der eine hoch, 465 Meter der andere. Der Morgen brach an.

Erst hatte ich zu viele neue Radhandschuhe (denn: Was schenkt man einem Mann, der seine Bücher lieber selber kauft, dessen neues Freizeitvergnügen aber bekannt geworden ist, wenn solche Anlässe kommen?), dann plötzlich gar keine mehr. Sportliches Radfahren ist eine infektiöse Sucht, und ich bin wie jeder, der davon schwärmt, ein williger Infektionsträger, ja, korruptionsfreudiger Missionar dieses Vergnügens. Jedenfalls, keine Handschuhe mehr greifbar, ohne wollte ich nicht starten. Da erinnerte ich mich meiner alten; irgendwo in einer Kiste des geräumigen Kellers sollten sie sein. Wieder hinabsteigen, im Aussortierten wühlen, sie dann wieder in der Hand halten und überstreifen; zu spüren, was man so oft spürte, Erinnerung ist materiell, ruht in den Dingen. Mich durchfuhr es.

Glocken klangen von fern herüber. Der Nebel lichtete sich, unten im Tal ließ sich das kleine Flüsschen vernehmen. Pfützen standen, wo sie konnten. Fichtenkronen begannen sich zu regen. Ostersamstag.

»Fort drum, ihr morschen, faulen Kümmernisse,

Ihr Ballast, Zweifel und Gewissensbisse,

Fort! sag ich, fort!« (b)

Er begann sich im gekachelten Mannschaftsduschraum zu reinigen, lange blieb er unter der flutenden taukühlen Morgendusche, vergaß, wo er war, das frische Frotteehandtuch kratzte ihn zurück. Seine Sachen waren im Chaos der Stube zusammenzusuchen. Er öffnete seinen vollgepfropften Spind, noch vor wenigen Monaten war dessen penible Ordnung eine Symbolfläche der hierarchischen Unterwerfung gewesen, nun nichts mehr davon. Zunächst galt es für ihn, aus diesem Stopfwerk die mannigfaltigen Teile seiner Uniform auf das Viereck seiner Zeltbahn zu seinem Überblick hinzuwerfen: das schwere Koppel, die Feldstiefel, die Schuhe für den Ausgang, die Einstrichkeinstrichfelddienstuniformjacke und -hose in Winter- und Sommerversion (die Kleidungsbefehle wurden schon lange nicht mehr beachtet, man zog sich an, wie das Wetter es nahelegte), das Käppi, die Fellmütze, die Ausgehuniformjacke mit dem silbernen Balken auf den Schulterstücken, mit durch Eicheln verzierter Schützenschnur und Sportabzeichen, die Gasmaske und den ABC-Schutzanzug, den Stahlhelm, die spezielle Gasmaskenbrille, den Klappspaten, die Schirmmütze der Ausgehuniform, das Besteck zur Waffenreinigung, den braunen Trainingsanzug mit den roten und gelben Streifen, die Magazintasche, die Turnschuhe dazu. Die weißen Einknöpfkragen zur Felddienstuniform, Element ewiger Schikane, waren längst verschwunden. Zum Schluss lag dann noch ein kleiner runder schwarzer flacher Gummizylinder am Boden seines Spinds, der eigentlich nicht dorthin, sondern in die Waffenkammer gehört hätte: die Mündungskappe seiner Kalaschnikow aus einer Polymerdispersion, die man kurz Latex nennt. Der Lauf gehörte verschlossen.

Knapp dreißig Jahre später fiel ihm das längst vergessene Gummiding auf den Boden und rollte über das Parkett durch das Zimmer, in dem die sonst verschlossene Truhe stand, in der er kramte, weil er, mit etwas freier Zeit gesegnet, einen Text über seine Fahrrandhandschuhe zu schreiben begonnen hatte, wofür er einigen Dingen nachgehen musste. Er postete ein Foto der Mündungskappe auf Facebook, wie fremd sah der Gegenstand aus, wenn man ihn isolierte und fokussierte, niemand erkannte ihn in seiner Funktion. Millionen Männer hatten ihn über Jahre gleichwohl in den Händen gehabt. Das erste Kalaschnikowschießen hatte am Ende der 9. Klasse begonnen.

Alles von sich werfen, aber so, dass sich auf der Zeltbahn dennoch eine Ordnung abbildete, wie er es gelernt hatte, durch endlosen Drill.

»… damals, noch voriges Jahr, war die Sinnlosigkeit nicht ganz so augenscheinlich und frustrierend wie heute.

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