Heft 884, Januar 2023

Asyl als Schwelle

Historische Skizze zu einem politischen Begriff von Till Breyer
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Historische Skizze zu einem politischen Begriff

Im Lauf der letzten Jahre ist den multiplen Krisenbefunden der Gegenwart der Begriff »Asylkrise« beigefügt worden, der dem Blick auf vermeintliche »Flüchtlingswellen« die Frage nach der Leistungsfähigkeit und der Fairness staatlicher Institutionen zur Seite stellt. Dem Begriff der Asylkrise könnte aber auch eine allgemeinere historische Triftigkeit zukommen: Wäre es möglich, dass das Asylrecht selbst, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert und institutionalisiert wurde, in eine Krise gerät und letztlich nicht mehr zeitgemäß ist? Diese Frage wurde etwa von dem marxistischen Historiker Simon Behrman aufgeworfen. Ihm zufolge sei das Problem vieler Asylsuchender nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an Recht, ein Zuwenig aber an gesellschaftlich-politischen, wenn nötig subversiven Praktiken der Gastfreundschaft. »[T]he reach of law«, so Behrman, »has been extended over ever larger groups of those fleeing persecution, allowing the law the final say on whether their claim for asylum is legitimate or not.«1 Diese Frage gewinnt noch an Relevanz, führt man sich vor Augen, dass das moderne, auf der Genfer Flüchtlingskonvention basierende Asylrecht auf die individuelle Zuschreibung des Flüchtlingsstatus und das Verfahren der Einzelfallprüfung ausgelegt ist, während die gegenwärtigen Krisen zunehmend mit regionalen Destabilisierungen einhergehen, in denen politische, wirtschaftliche und in Zukunft wohl auch klimatische Fluchtursachen kaum noch unterscheidbar sind.2

Die Kritik am Asylsystem, die sich gegen die in den Asylbegriff eingeschriebene Asymmetrie (der Souverän »gibt« Asyl) und gegen die Verrechtlichung eines ursprünglich politischen Prinzips richtet, rührt an ein Spektrum offener Fragen, die in den institutionellen und bürokratischen Formen des Asylrechts gleichsam verknöchert sind. Dass sie heute neu gestellt werden müssen, folgt nicht nur und nicht in erster Linie aus akademischen Debattenbeiträgen, sondern schon aus den jüngsten Zäsuren der Asylpraxis selbst: Beispiele wie die als »Sommer der Migration« bekanntgewordene Situation des Jahres 2015, als knapp eine Million Geflüchtete (unter Umgehung der Dublin-Regelung) in Deutschland einreisen durften, oder die Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie im Februar 2022, die Einreisende aus der Ukraine kollektiv als Kriegsflüchtlinge einzustufen erlaubte, zeigen, dass das Asyl heute vermehrt als politisches Verhältnis hervortritt und faktisch kaum noch auf eine behördliche Alltagspraxis reduziert werden kann. Dasselbe gilt freilich für die neuen kontrollstaatlichen Verknöcherungen der Festung Europa, die sich im krassen Kontrast zu den politischen Gesten des Aufnehmens in Hochsicherheitstrakten, Stacheldrahtzäunen und menschenrechtlich hochproblematischen internationalen Kooperationen manifestieren. Darin also bestünde das dialektische Symptom der Asylkrise: Das Rechtliche am Asylrecht driftet auseinander in einen exekutiven Entscheidungsraum auf der einen, in polizeiliche und sicherheitstechnische Kontrollräume auf der anderen Seite.

In dieser doppelten Drift taucht ein älterer Problembezug wieder auf, der lange vor der Formulierung der Genfer Flüchtlingskonvention bereits eng mit dem Asylbegriff verbunden war. Er betrifft das Verhältnis des Asyls zum Raum, das heißt zur Frage, wo genau – an welchem Ort, in welchem Territorium – die Beziehung zwischen den Ankommenden und den Aufnehmenden sich manifestieren kann. Derzeit lässt sich beobachten, wie diese Raumdimension des Asyls in den Vordergrund der Asyldebatten und der entsprechenden politischen Entscheidungen tritt. Bereits in der Krisensituation von 2015 war es weniger eine Rechtsfrage als die Frage des konkreten Aufenthaltsorts Hunderttausender bereits in Ungarn angelangter Geflüchteter, die zu der politischen Entscheidung führte, »das Gebiet der Bundesrepublik als Raum zum Gewinn von Zeit zu nutzen«.3

Noch enger ist das ukrainische Exil mit der Dimension des Raums verbunden: Es hat sich gezeigt, dass Putins Angriffskrieg – anders als etwa die maßgeblich von den USA geführten Kriege im Nahen Osten – auf eine territoriale Ausdehnung zielt, die das Staatsterritorium der Ukraine als solches bedroht. Die Fluchtbewegungen aus der Ukraine vollziehen sich deshalb nicht einfach zwischen zwei gegebenen, stabilen Räumen, sondern führen von einem Raum, dessen Integrität insgesamt angegriffen wird, zu anderen Räumen, die dem ersten benachbart sind und gleichsam als Ausweichräume fungieren können. Auf der anderen, repressiven Seite der europäischen Migrationspolitik tritt die Dimension des Raums ebenfalls in neuer Weise hervor. Hotspot-Lager wie das neue, mit EU-Mitteln errichtete Internierungslager auf Samos, hochgerüstete Grenzübergänge wie in Melilla und rechtsfreie Niemandsländer wie jenes an der polnisch-belarussischen Grenze bilden eine gespenstische Topografie, deren Funktion es ist, die Bewegung im Raum für bestimmte Menschen zu unterbinden.

Historisch ist die Frage, welche Räume Flüchtlingen, Verfolgten oder Vertriebenen zu öffnen oder zu verschließen sind und an welchen Orten sich die Praxis des Asyls entfalten soll, eng mit dem Asylbegriff verbunden. Die folgende Skizze dieses Zusammenhangs setzt im 17. Jahrhundert an. Bestimmte sozial- und ideengeschichtliche Elemente des frühneuzeitlichen Asylrechts können zu einer politischen Perspektive beitragen, die dem sich intensivierenden Zusammenspiel von hyper-territorialization und remote border control eine Konzeption zugänglicher und gemeinsamer Räume entgegensetzt.4

Denn historisch ist der Asylbegriff eng mit dem Anspruch verbunden, politisch-rechtliche Ordnungen mit einer Schwelle zu versehen, die sie auch jenseits der Entscheidungsmacht eines Souveräns für Fremde oder Notleidende zugänglich hält. Wenn das moderne Asylrecht seit dem 19. Jahrhundert, wie der Historiker Karl Härter schreibt,5 »im Vergleich zur Vielfalt der frühneuzeitlichen Asyle eine deutliche Einschränkung« darstellt, so lassen sich aus dem historischen Blick auf diese vormodernen Formen zwar für die Gegenwart keine Lösungen ableiten, wohl aber lässt sich eine Geschichte vergangener Manifestationen und Deutungsansprüche des Asyls rekonstruieren, die eine kritische Perspektive auf das Verhältnis von Asyl und Raum schärfen kann.

Das aus dem Frühmittelalter stammende Asylrecht, das jus asyli, war kein subjektives Recht eines Flüchtlings oder Verfolgten. Vielmehr handelte es sich um ein strafrechtsbezogenes Privileg, über das bestimmte Orte wie Kirchen, Friedhöfe, Klöster, aber auch bestimmte Gutshöfe, Dörfer oder ganze Reichsstädte verfügten.6 Diese Orte waren von der territorialen Rechtsprechung, von der sie umgeben waren, ein Stück weit ausgenommen. Sie beanspruchten das Recht, Flüchtlinge oder Verfolgte, derer die Obrigkeit habhaft werden wollte, bei sich aufzunehmen und zumindest eine Zeitlang vor einem gewaltsamen Zugriff zu schützen. Die Motivation dieser oftmals konfliktreichen und mitunter kostspieligen Aufnahmepraxis, auf die meist vehement gepocht wurde, ist komplex und lässt sich nicht an einem eindeutigen, etwa ökonomischen Nutzen für die Asylgeber festmachen. Zentral scheint aber gewesen zu sein, dass eine Verletzung des Asylrechts als Missachtung des eigenen Machtbereichs oder des eigenen, altehrwürdigen Privilegs empfunden wurde. Wie der Rechtshistoriker Bas Schotel schreibt, lautete das Prinzip des jus asyli üblicherweise: »Don’t touch my refugee.«7

Ursprünglich scheint das sakrale Recht des Asyls dabei mit der Entstehung des Rechts selbst zusammenzuhängen. Bereits in den Chroniken und Geschichtsbüchern der Frühen Neuzeit wird auf die alttestamentarische Darstellung verwiesen, der zufolge die sechs Levitenstädte der Hebräer »Asyle« beziehungsweise »Freyungen« waren, in die sich Totschläger, die ihre Missetat ohne bewusste Absicht verübt hatten, flüchten konnten, um der Rache zu entgehen, die von den Anverwandten des Erschlagenen zu befürchten war.8 Als Ort einer Vermittlung, die in Verkettungen von Gewalt und Rache interveniert, repräsentieren diese Städte letztlich das Prinzip des Rechts selbst.

Seit dem Mittelalter hat sich diese intervenierende Funktion des Asyls, die mehr und mehr auf die weltliche Rechtspflege überging, zur Intervention in diese Rechtspflege selbst gewandelt. So heißt es in einem Kompendium des Strafrechts von 1752, dass bezüglich eines Totschlägers, der sich in die Asylstadt Reutlingen geflüchtet hatte, »Urtheil und Proceß keine Krafft noch Macht haben«.9 Die »Kraft« des Rechts wird abgeschwächt oder aufgehoben, sobald der Totschläger das Asyl erreicht. Das Asylrecht erscheint so als ein Recht, dessen paradoxe Kraft darin besteht, die Kraft des Rechts zu begrenzen. Es ist eine Schwelle, die nicht – wie die biblischen Levitenstädte – in den Raum des Rechts, sondern ein Stück weit aus ihm hinausführt und die innerhalb eines gegebenen Territoriums, wie man in der Sprache einer bestimmten philosophischen Rechtskritik sagen könnte, eine »Depotenzierung des Rechts« erzeugt.10

Die Asyle (sanctuaries oder asiles), die in England und Frankreich bis ins 17. Jahrhundert hinein, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bis in die Zeit um 1800 etabliert waren, bilden ein Geflecht von jurisdiktionellen Exklaven, die rechtlich zwar jeweils auf bestimmte Gruppen von Devianten – etwa Totschläger, Verschuldete, Diebe, Vagabunden – beschränkt, aber dennoch in hohem Maß zugänglich waren. Die Entscheidung, ob jeweils ein asylwürdiger Fall vorlag, oblag den kirchlichen oder weltlichen Autoritäten, die das Asyl verwalteten. Die Erzählung des Hergangs, die der Flüchtling lieferte, war oft allein ausschlaggebend, auch wenn nachdrückliche Proteste oder Beweisführungen von außen weitere Untersuchungen nach sich ziehen konnten.11 In dem Maß, in dem sich das Asylrecht historisch »jenseits des Rechts oder besser: neben ihm situiert« hat,12 war es zugleich auf eine Paraterritorialität angewiesen, die innerhalb des machtbesetzten staatlichen Raums einen »exemten Ort«13 offenhält. Zugleich bot dieser Ort die Möglichkeit, in die politisch-rechtliche Ordnung zurückzukehren: Das Asyl war nicht nur Zufluchtsort, sondern meist auch Ausgangspunkt der Verhandlung oder Neuverhandlung, und insbesondere das Kirchenasyl diente dazu, durch die bischöfliche Vermittlung Leibes- und Todesstrafen auszuschließen oder mit den geschädigten Parteien eine Art außergerichtliche Einigung zu erzielen.

So wenig diese vormoderne Asylpraxis mit heutigen Rechtsvorstellungen vereinbar zu sein scheint, so sehr lässt sich beobachten, dass das Spannungsverhältnis zwischen Asyl und Recht bis heute nachklingt. Von law and order-affinen Positionen aus wird es gegen offene Asylpolitiken in Stellung gebracht. Wenn etwa angesichts der Ausnahmeentscheidung von 2015 von konservativer und rechter Seite wiederholt von einem Rechtsbruch und von Unrecht gesprochen wurde, und wenn Politiker warnen, ihr Land gerate angesichts höherer Asylzahlen an seine »Grenzen«, dann wird in dieser Bildsprache ein Aspekt skandalisiert, der historisch tatsächlich eng mit dem jus asyli verknüpft war: Die »Freyungen« bezeichneten innere Grenzen einer Rechtsordnung. Was die ansässige Bevölkerung als Recht und Ordnung bezeichnete oder empfand, wurde am Ort des Asyls in einen Schwebezustand versetzt, so dass Fragen der Gerechtigkeit und der Angemessenheit von Rechtsgewalt neu verhandelt werden konnten und mussten.

Dieser historische Zug einer temporären und selektiven Aussetzung des Rechts steht der institutionellen Gestalt jener Internierungslager unserer Tage, in denen sich der »reach of law« (Simon Behrman) aufs Äußerste intensiviert, diametral gegenüber. Fortgeschrieben wird er hingegen durch Akteure wie den Landwirt Cédric Herrou, der seit 2015 seinen Bauernhof nahe der französisch-italienischen Grenze über Jahre hinweg zu einem Obdach für illegale Einwanderer machte und dabei insgesamt mehr als 250 Menschen beherbergte. Dafür war er vier Jahre lang mit Klagen, Verhaftungen und Hausdurchsuchungen vonseiten der Staatsanwaltschaft konfrontiert, bis das Kassationsgericht ihn schließlich (unter Bezug auf das Prinzip der »fraternité«) freisprach.14 Eine solche Form von zivilgesellschaftlichem Engagement steht in der Tradition des lokalen Asylbegriffs. In dieser Tradition bezeichnet »Asyl« stets einen konkreten Ort, der an den Grenzen einer politisch-rechtlichen Ordnung liegt, der faktisch oder de jure unverletzlich ist und in dem das Begehren, zwischen berechtigten und unberechtigten Asylgesuchen zu unterscheiden, auf ein Minimum begrenzt ist.

Das unübersichtliche Geflecht der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Asyle, das berühmte Zentren wie die Basilique de Saint-Martin in Tours, Westminster Abbey in London, die Reichsstadt Reutlingen in Württemberg, den Vatikan in Rom, aber auch Hunderte kleiner (Kirchen)Gebäude und anderer Ortschaften umfasste, lässt die Topografie des alten Asylrechts als eine Art Unterbrechungsstruktur staatlicher Territorialität erscheinen. Man könnte sie als eine im Inneren verstreute Außengrenze beschreiben, an der die Verfolgung und Ergreifung einzelner Menschen immer wieder an emblematische und durchaus öffentlichkeitswirksam verteidigte Grenzen geriet.15 Diese Spannung des Asyls nicht nur zum Recht, sondern auch zur Ordnung der Territorialität lässt sich im 17. Jahrhundert auch dort wiederfinden, wo die moderne, völkerrechtliche Konzeption des Asylrechts Gestalt gewinnt.

Die Rede ist von Hugo Grotius’ Ausführungen zum völkerrechtlich gebotenen Umgang mit Vertriebenen in seinem 1625 erschienenen Hauptwerk De iure belli ac pacis libri tres (Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens). In einer oft zitierten Passage im Zweiten Buch (dem Abschnitt XVI des zweiten Kapitels) entwickelt Grotius Überlegungen zu Flüchtlingen, die ihre Heimat verlassen mussten. Völkerrechtlich gesehen sei ihnen der Durchzug, ja nötigenfalls auch die unbefristete Bleibe zu gewähren: Ein »dauernder Aufenthalt [perpetua habitatio]«, so Grotius, »darf den Fremden, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und um Einlass bitten, nicht vorenthalten werden, sofern sie sich der bestehenden Regierung und den Erfordernissen für die öffentliche Ordnung fügen«.

Diese Ausführungen (in denen das Wort »Asyl« nicht auftaucht) sind in der älteren Forschung für die These in Anspruch genommen worden, Grotius begründe das moderne politische Asyl – zu Unrecht. Denn hier geht es nicht um politische Flüchtlinge, sondern um Vertriebene: expulsi, wie sie bei Grotius heißen.16 In einem späteren Kapitel werden noch Verbannte, exsules, zu jenen gezählt, die aufgenommen werden müssen. Politische Verbrecher hingegen, etwa solche, die sich der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht haben – modern gesprochen: politische Flüchtlinge –, müssen laut Grotius auf Verlangen ausgeliefert werden. Ausgerechnet bei der Begründung dieses Ausschlusses fällt dann das Wort »Asyl«. Der Auslieferung der Verbrecher, so Grotius, »stehen auch die sogenannten Rechte der Schutzflehenden und die Verfahren der Asyle [asylorum exempla] nicht entgegen. Denn diese nützen nur jenen, die zu Unrecht verfolgt werden, nicht aber denen, die sich gegen die menschliche Gesellschaft oder Einzelne vergangen haben.«

Die Passage (die sich im Abschnitt V des einundzwanzigsten Kapitels findet) ist aufschlussreich, denn sie vollzieht zwei Gesten auf einmal. Erstens erklärt sie das Asylrecht bei geflüchteten Verbrechern aus dem Ausland für unzulässig. Zweitens aber definiert Grotius unter der Hand das Asyl kurzum als Zufluchtsort derer, die unschuldig sind, ja er behauptet, dass dies schon immer so gewesen sei. Das ist eine kühne Interpretation, denn Asyle galten bis in die Frühe Neuzeit hinein als Zufluchtsorte für Menschen, die sich durchaus auf irgendeine Weise schuldig gemacht haben. Hier hingegen wird vorausgesetzt, Asyle stünden nur den ohnehin Unschuldigen offen. Damit, so könnte man sagen, schafft Grotius sie implizit ab. Zugleich aber hat die völkerrechtliche expulsi-Problematik, die im liminalen Bereich zwischen den Staaten auftaucht, eine den alten Asylen analoge Struktur. Sie beerbt sowohl die »Depotenzierung des Rechts« (Christoph Menke), die mit dem jus asyli verbunden ist, als auch das spannungsvolle Verhältnis zur Integrität eines staatlichen Territoriums.

Ausgangspunkt von Grotius’ Argumentation hinsichtlich der exsules und expulsi ist der Begriff des Gemeinsamen: Im ganzen Kapitel geht es um das, »was den Menschen gemeinsam zusteht«. Und gemeinsam steht ihnen bis zu einem gewissen Grad die Erde zu – der bewohnbare Raum. Zwar muss, bevor ein fremdes Land durchquert oder dort eine Hütte gebaut wird, die Erlaubnis der Obrigkeit eingeholt werden. Doch diese Erlaubnis zu verweigern, wäre Unrecht. Der Grund liegt in Grotius’ Vorstellung von der Entstehung des dominium, also der Herrschaft beziehungsweise des Eigentums. Dieses folgte auf eine Zeit, in der zunächst alles Gemeingut war. Der Schritt zur Abgrenzung von Eigentum – und auch zur Begrenzung eines Territoriums – sei nun so vorzustellen, dass er sich »so wenig wie möglich von der natürlichen Gleichheit [aequitate naturali] entfernt«. Eigentum hat demnach sein Recht nur, sofern es »dem einen nützt, ohne dem anderen zu schaden«. Daraus folge, »dass in der höchsten Not das alte Recht des Gebrauchs wieder auflebt, so als wären die Güter noch gemeinsam [communes]; denn bei allen menschlichen Gesetzen und deshalb auch bei dem Gesetz des Eigentums [lege dominii] ist jene höchste Notsituation [necessitas] ausgenommen.« Eine solche Notsituation ist zum Beispiel gegeben, »wenn jemand aus seinem Land verjagt wurde und freies Land sucht«.

Zwischen den inneren Asylen, die Grotius implizit ablehnt, und der völkerrechtlichen Asylproblematik, die auf die Figur des Vertriebenen bezogen ist, besteht ein heimlicher Zusammenhang. Denn auch das Recht der expulsi impliziert letztlich, wie der ältere Asylbegriff, eine Infragestellung des souveränen Rechts. Eigentum und Territorialität, so Grotius, bleiben auf ihr Gegenteil, das Gemeinsame, bezogen und finden darin ihre eigene innere Grenze. So knüpft sich am Ursprung des modernen Völkerrechts an die Figur des Vertriebenen, die nicht nur Kriegs-, sondern auch Religionsflüchtlinge einschließt,17 eine grundsätzliche Infragestellung jenes staatlichen Kontrollbegehrens, das den modernen Territorialstaat konstituiert. Unterhalb des Territorialstaats liegt für Grotius das Gemeinsame, das in der Situation der Flucht sein Recht zurückerhält. Und es ist dieses Gemeinsame, an dem sich der Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand immer wieder aufs Neue vollziehen und bewähren muss. Deshalb gilt für die Aufnahme der expulsi dasselbe, was Grotuis vom zwischenstaatlichen Handel sagt: Wird sie verweigert, »so zerreißt das Band des menschlichen Geschlechts«.

In Grotius’ Behandlung der expulsi zeigt sich das Völkerrecht selbst in gewisser Weise als rechtsbeschränkender Diskurs. Es markiert eine Konstellation, in der das Recht des Staates, nach freier Willkür über die Menschen auf seinem Territorium zu verfügen (und sie zum Beispiel ab- oder auszuweisen), an seine Grenze gerät oder geraten soll. Insofern hat der völkerrechtliche Diskurs hier selbst den Charakter einer intercessio, eines Einschreitens, wie es für die Bischöfe im Fall eines in die Kirche geflohenen Flüchtlings kirchenrechtlich verpflichtend war. Dieses Einschreiten des Völkerrechts verweist auf jenen anderen, verdeckten oder verdrängten Raum, der unterhalb des durch Grenzen markierten Raums des Eigentums und der Herrschaft liegt. Aus dieser Perspektive spiegelt sich jedes territoriale Hier in einem Anderswo, jedes Staatsgebiet ist zugleich auch bloßer Raum, und wer irgendwo bleiben soll, muss auch genau hier bleiben dürfen.

In seiner Stellungnahme zum Umgang mit den aus Spanien geflüchteten sephardischen Juden, die Grotius 1615 als Generaladvokat in Amsterdam anfertigte, klingt genau dieser Aspekt der Relativierung des Raums an: »Offenbar wollte Gott, dass sie irgendwo bleiben. Warum also nicht hier statt anderswo, da anderswo dieselben Gründe vorliegen würden wie hier?«18 So werden die abgegrenzten Räume der Staaten in doppelter Hinsicht relativ: Erstens, weil im Angesicht von Vertriebenen oder Heimatlosen eine ursprüngliche Relation – eine politische Beziehung – neu geknüpft werden muss, damit das Band des menschlichen Geschlechts nicht zerreißt. Zweitens, weil das konkrete Land oder die konkrete Stadt sich in anderen Ländern und Orten zu spiegeln beginnen und als ein Irgendwo erkennbar werden. Und »irgendwo« muss jede und jeder Geflüchtete bleiben.

Im Verhältnis von Asyl und Raum haben sich zwischen dem 17. Jahrhundert und der Gegenwart immer neue Konfigurationen ergeben, die mit der Transformation territorialer Macht und der Entwicklung staatlicher Kontrollmöglichkeiten, aber auch mit der Veränderung von Flucht- und Migrationstypen ihre materiellen Formen und ideologischen Repräsentationen verändert haben. Eine der heute prägendsten ideologischen Formen stellt in diesem Zusammenhang wohl die Übersetzung von Asylverhältnissen in die Ordnung der Zahlen dar, in der die Realität buchstäblich chiffriert erscheint.

Wo fortwährend steigende Asylzahlen skandalisiert werden, wird die Frage nach dem Woher und Wohin von Fluchtmigration, nach den Orten des Asyls und ihrem Verhältnis zur aufnehmenden Gesellschaft von Beginn an verdinglicht und aus dem Blick gerückt. Dabei ist die Dimension des Raums de facto längst zur zentralen Kampfzone von Antiasylpolitiken geworden. Ein besonders grelles Beispiel ist das umstrittene Abkommen zwischen Großbritannien und Ruanda, das im April 2022 unterzeichnet wurde und ermöglichen soll, Asylbewerber noch vor ihrem Asylbescheid dauerhaft in das ostafrikanische Land abzuschieben. Eine solche Politik lässt dem Asylrecht formal seine Gültigkeit und produziert also »Asylzahlen«, um gleichzeitig in der Dimension des Raums die mit dem Asyl verbundenen gesellschaftlich-politischen Verpflichtungen auszulagern. Überflüssig festzustellen, dass die Abgeschobenen auf diese Weise im Rahmen des Deals wie Waren behandelt werden.

Angesichts solcher Strategien eines displacement des Asyls wären jene Fragen neu zu stellen, die historisch mit dem Asyl verbunden sind und die sich nicht auf die Frage nach einer objektiven Flüchtlingsqualität einzelner Personen und eines ihnen zugewiesenen Personenstands als Flüchtling reduzieren lassen. Zum einen ist anknüpfend an Grotius zu fragen, unter welchen Bedingungen ein staatlicher Raum zu einem gemeinsamen Raum in dem Sinn werden kann, dass hier ein politisches Band geknüpft werden und eine neue politische Beziehung entstehen kann. Dieser gemeinsame Raum ist kein »anderer Ort« im Sinn des Foucault’schen Heterotopos. Er besteht vielmehr in der politischen Sensitivität einer Gesellschaft für jene Formen von necessitas, von Notsituationen, die sie in ihrem Außen umgeben. Wie die frühneuzeitlichen »Asyle« oder »Freyungen«, so stellt auch dieser völkerrechtliche Bezug zwischen Territorium und gemeinsamem Raum eine konzeptuelle Schwelle dar, die zur Ordnung des Staats und der Staatsangehörigkeit in einem Verhältnis des politischen Aushandelns steht.

Figuren dieser Schwelle zwischen Territorium und Asyl, zwischen dem Eigenen und dem Gemeinsamen sind nicht auf den philosophischen Diskurs beschränkt, sondern tief in die Reflexionsgeschichte des modernen Nationalstaats eingeschrieben. Sie lassen sich insbesondere in marginalen oder liminalen Literaturen finden, etwa in Anna Seghers’ Exilroman Transit, der die verwirrende Bürokratie der Flucht, der Papiere und der Identitäten im Marseille des Jahres 1940 beschreibt. Gerade hier, im bürokratischen Chaos eines der letzten freien Häfen Europas, tauchen Irritationen der Raumwahrnehmung und Bilder einer anderen Raumdimension auf. Wo die Flüchtlinge »in Überzahl […] gegen die Lebenden« sind, »die hier ihre festen Siedlungen hatten«, und wo »kaum jemand mehr die Staatsbürgerschaft seines Ursprungslandes hat«, erscheint vor dem inneren Auge des Erzählers das Bild einer anderen, wenngleich absurden Verknüpfung von Räumen und Subjekten, in der die endlosen Erfahrungen existenzieller Not (necessitas) sich zusammenfügen und verbinden würden: »Ich dachte an meine Mutter, die sich jetzt ebenfalls eingereiht haben mochte im Morgengrauen in irgendeine Schlange vor irgendeinem Laden ihrer Stadt für ein paar Knochen oder ein paar Gramm Fett … In allen Städten des Erdteils warteten jetzt diese Schlangen vor unzähligen Türen. Wenn man sie aneinanderreihte, reichten sie wohl von Paris bis Moskau, von Marseille bis Oslo.«19

In diesem Bild einer den europäischen Kontinent durchziehenden Kette moderner expulsi berührt der Roman den historischen Zusammenhang, der zwischen dem Begriff des Asyls und der Idee eines gemeinsamen und ungeteilten Raums besteht. Ein solcher Raum würde nicht nur das Gesetz des Krieges, sondern potentiell auch die Ordnung des Gesetzes insgesamt unterbrechen: die Ordnung der »festen Siedlungen« und der »Staatsbürgerschaft«.

Wenn ein solcher Moment der Unterbrechung für Anna Seghers, die den Roman zwischen 1940 und 1943 während ihrer eigenen Flucht niederschreibt, nur als Vorstellungsspiel erzählbar ist, so ist er politisch doch alles andere als realitätsfern. Er gelingt überall dort, wo Institutionen des supranationalen Rechts staatliche Entscheidungen zu durchkreuzen vermögen, wie jüngst im Falle der Abschiebung von Asylbewerbern aus England nach Ruanda, die im letzten Moment durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterbunden wurde;20 aber auch dort, wo konkrete Orte der Zuflucht diesseits der Legalität entstehen und – wie der bereits erwähnte Hof des Franzosen Cédric Herrou – im Kontext zivilgesellschaftlichen Engagements Schwellen neuer politischer Beziehungen entstehen lassen.

Eine Politik der Schwelle in diesem Sinn wäre ein Gegenprogramm zu jener migration control, deren Intensität sich im aller Wahrscheinlichkeit nach bevorstehenden Zeitalter der Klimaflucht noch erhöhen dürfte. So könnte ein supplementäres, zu den bisherigen Verfahren hinzutretendes Asylrecht legale und illegale, staatliche und zivilgesellschaftliche Orte der Aufnahme und der Zuflucht einem besonderen Schutz, gleichsam einer Duldung qua Ort, unterstellen und damit an diesen Orten das Kontrollbegehren über Einwanderung und Aufenthalt ein Stück weit depotenzieren. Vor allem aber wäre in das so vertraute Bild der Erde als Mosaik staatlicher Territorien jene Vorstellung des Irgendwo wieder einzutragen, die darauf verweist, dass jeder Ort nicht nur Teil eines Staatsgebiets, sondern auch Teil der globalen »Kugelfläche« ist, wie Kant es in Zum Ewigen Frieden (1795) einmal formulierte, das heißt Teil einer Fläche, die den Menschen unbezweifelbar gemeinsam zusteht. Das Asyl wäre dann auch die perspektivische Schwelle, die das Hier derer, die schon da sind, zugleich als das Irgendwo erscheinen lässt, an dem der Flüchtling oder die Migrantin ankommt.

Anmerkungen

1

»Die Reichweite des Rechts ist auf immer weitere Gruppen von Menschen ausgedehnt worden, die vor Verfolgung fliehen, so dass das Recht das letzte Wort dazu hat, ob ihr Anspruch auf Asyl legitim ist oder nicht.« Simon Behrman, Legal Subjectivity and the Refugee. In: International Journal of Refugee Law, Nr. 26/1, Mai 2013.

2

Vgl. Alexis Nouss, Droit d’exil. Pour une politisation de la question migratoire. Paris: Editions Mix 2020.

3

Herfried Münkler, Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können. In: Zeit vom 11. Februar 2016.

4

David Scott FitzGerald, Remote control of migration. Theorising territoriality, shared coercion, and deterrence. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, Nr. 46/21, Oktober 2019.

5

Karl Härter, Vom Kirchenasyl zum politischen Asyl. Asylrecht und Asylpolitik im frühneuzeitlichen Alten Reich. In: Martin Dreher (Hrsg.), Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion. Köln: Böhlau 2003.

6

Einen historischen Überblick liefert Bertram Turner, Asyl und Konflikt von der Antike bis heute. Rechtsethnologische Untersuchungen. Berlin: Dietrich Reimer 2005; zum Verhältnis von Asyl und politischem Raum vgl. Friedrich Balke, Asyl. Zur Umbesetzung eines politischen Ausnahmeraums. In: Anna Echterhölter /Iris Därmann (Hrsg.), Konfigurationen. Gebrauchsweisen des Raums. Zürich: diaphanes 2013.

7

Bas Schotel, Legal Protection as Competition for Jurisdiction: The Case of Refugee Protection through Law in the Past and at Present. In: Leiden Journal of International Law, Nr. 31/1, März 2018.

8

Vgl. den Artikel »Freystadt, Freyhung, asylum, ein heiliger Ort« in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 9. Halle /Leipzig 1735.

9

Johann Jacob Moser, Teutsches Staatsrecht. Teil 5. Franckfurt /Leipzig 1752.

10

Christoph Menke, Die Möglichkeit eines anderen Rechts. Zur Auseinandersetzung mit Andreas Fischer-Lescano. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr. 62/1, Mai 2014.

11

Vgl. exemplarisch Ralf Reck, Das Totschläger-Asyl der Reichsstadt Reutlingen 1495–1804. Reutlingen: Oertel & Spörer 1970.

12

Eva Horn, Der Flüchtling. In: Dies. /Stefan Kaufmann /Ulrich Bröckling (Hrsg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten. Berlin: Kadmos 2002.

13

Joseph Vogl, Asyl des Politischen. Zur Struktur politischer Antinomien. In: Rudolf Maresch /Niels Werber (Hrsg.), Raum – Wissen – Macht. Frankfurt: Suhrkamp 2002.

14

Juliette Bénézit, Victoire judiciaire définitive pour le militant Cédric Herrou, après plus de quatre ans de procédures. In: Le Monde vom 31. März 2021.

15

Vgl. Karl Härter, Frühneuzeitliche Asylkonflikte vor dem Reichshofrat und anderen europäischen Höchstgerichten. In: Leopold Auer /Werner Ogris /Eva Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen. Köln: Böhlau 2007.

16

Vgl. Elke Tießler-Marenda, Einwanderung und Asyl bei Hugo Grotius. Berlin: Duncker & Humblot 2002.

17

Vgl. Marc de Wilde, Seeking Refuge. Grotius on Exile, Expulsion and Asylum. In: Journal of the History of International Law, Nr. 20/4, Januar 2018.

18

»Het is duidelijk dat God wil dat zij ergens verblijven. Waarom dan niet hier, zo goed als elders, aangezien elders hetzelfde argument bestaat, dat hier ook kan worden beweerd?« David Kromhout /Adri Offenberg, Hugo Grotius’s »Remonstrantie« of 1615. Facsimile, Transliteration, Modern Translations and Analysis. Leiden: Brill 2019.

19

Anna Seghers, Transit. Neuwied: Luchterhand 1963.

20

Diane Taylor /Rajeev Syal /Emine Dinmaz, Rwanda asylum flight cancelled after 11th-hour ECHR intervention. In: Guardian vom 14. Juni 2022. Zur Frage einer asylpolitischen Effizienz juristischer Konkurrenzverhältnisse vgl. Schotel, Legal Protection as Competition for Jurisdiction.

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