Asyl als Schwelle
Historische Skizze zu einem politischen Begriff von Till BreyerHistorische Skizze zu einem politischen Begriff
Im Lauf der letzten Jahre ist den multiplen Krisenbefunden der Gegenwart der Begriff »Asylkrise« beigefügt worden, der dem Blick auf vermeintliche »Flüchtlingswellen« die Frage nach der Leistungsfähigkeit und der Fairness staatlicher Institutionen zur Seite stellt. Dem Begriff der Asylkrise könnte aber auch eine allgemeinere historische Triftigkeit zukommen: Wäre es möglich, dass das Asylrecht selbst, so wie es nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert und institutionalisiert wurde, in eine Krise gerät und letztlich nicht mehr zeitgemäß ist? Diese Frage wurde etwa von dem marxistischen Historiker Simon Behrman aufgeworfen. Ihm zufolge sei das Problem vieler Asylsuchender nicht ein Zuwenig, sondern ein Zuviel an Recht, ein Zuwenig aber an gesellschaftlich-politischen, wenn nötig subversiven Praktiken der Gastfreundschaft. »[T]he reach of law«, so Behrman, »has been extended over ever larger groups of those fleeing persecution, allowing the law the final say on whether their claim for asylum is legitimate or not.« Diese Frage gewinnt noch an Relevanz, führt man sich vor Augen, dass das moderne, auf der Genfer Flüchtlingskonvention basierende Asylrecht auf die individuelle Zuschreibung des Flüchtlingsstatus und das Verfahren der Einzelfallprüfung ausgelegt ist, während die gegenwärtigen Krisen zunehmend mit regionalen Destabilisierungen einhergehen, in denen politische, wirtschaftliche und in Zukunft wohl auch klimatische Fluchtursachen kaum noch unterscheidbar sind.
Die Kritik am Asylsystem, die sich gegen die in den Asylbegriff eingeschriebene Asymmetrie (der Souverän »gibt« Asyl) und gegen die Verrechtlichung eines ursprünglich politischen Prinzips richtet, rührt an ein Spektrum offener Fragen, die in den institutionellen und bürokratischen Formen des Asylrechts gleichsam verknöchert sind. Dass sie heute neu gestellt werden müssen, folgt nicht nur und nicht in erster Linie aus akademischen Debattenbeiträgen, sondern schon aus den jüngsten Zäsuren der Asylpraxis selbst: Beispiele wie die als »Sommer der Migration« bekanntgewordene Situation des Jahres 2015, als knapp eine Million Geflüchtete (unter Umgehung der Dublin-Regelung) in Deutschland einreisen durften, oder die Aktivierung der EU-Massenzustrom-Richtlinie im Februar 2022, die Einreisende aus der Ukraine kollektiv als Kriegsflüchtlinge einzustufen erlaubte, zeigen, dass das Asyl heute vermehrt als politisches Verhältnis hervortritt und faktisch kaum noch auf eine behördliche Alltagspraxis reduziert werden kann. Dasselbe gilt freilich für die neuen kontrollstaatlichen Verknöcherungen der Festung Europa, die sich im krassen Kontrast zu den politischen Gesten des Aufnehmens in Hochsicherheitstrakten, Stacheldrahtzäunen und menschenrechtlich hochproblematischen internationalen Kooperationen manifestieren. Darin also bestünde das dialektische Symptom der Asylkrise: Das Rechtliche am Asylrecht driftet auseinander in einen exekutiven Entscheidungsraum auf der einen, in polizeiliche und sicherheitstechnische Kontrollräume auf der anderen Seite.
In dieser doppelten Drift taucht ein älterer Problembezug wieder auf, der lange vor der Formulierung der Genfer Flüchtlingskonvention bereits eng mit dem Asylbegriff verbunden war. Er betrifft das Verhältnis des Asyls zum Raum, das heißt zur Frage, wo genau – an welchem Ort, in welchem Territorium – die Beziehung zwischen den Ankommenden und den Aufnehmenden sich manifestieren kann. Derzeit lässt sich beobachten, wie diese Raumdimension des Asyls in den Vordergrund der Asyldebatten und der entsprechenden politischen Entscheidungen tritt. Bereits in der Krisensituation von 2015 war es weniger eine Rechtsfrage als die Frage des konkreten Aufenthaltsorts Hunderttausender bereits in Ungarn angelangter Geflüchteter, die zu der politischen Entscheidung führte, »das Gebiet der Bundesrepublik als Raum zum Gewinn von Zeit zu nutzen«.
Noch enger ist das ukrainische Exil mit der Dimension des Raums verbunden: Es hat sich gezeigt, dass Putins Angriffskrieg – anders als etwa die maßgeblich von den USA geführten Kriege im Nahen Osten – auf eine territoriale Ausdehnung zielt, die das Staatsterritorium der Ukraine als solches bedroht. Die Fluchtbewegungen aus der Ukraine vollziehen sich deshalb nicht einfach zwischen zwei gegebenen, stabilen Räumen, sondern führen von einem Raum, dessen Integrität insgesamt angegriffen wird, zu anderen Räumen, die dem ersten benachbart sind und gleichsam als Ausweichräume fungieren können. Auf der anderen, repressiven Seite der europäischen Migrationspolitik tritt die Dimension des Raums ebenfalls in neuer Weise hervor. Hotspot-Lager wie das neue, mit EU-Mitteln errichtete Internierungslager auf Samos, hochgerüstete Grenzübergänge wie in Melilla und rechtsfreie Niemandsländer wie jenes an der polnisch-belarussischen Grenze bilden eine gespenstische Topografie, deren Funktion es ist, die Bewegung im Raum für bestimmte Menschen zu unterbinden.
Historisch ist die Frage, welche Räume Flüchtlingen, Verfolgten oder Vertriebenen zu öffnen oder zu verschließen sind und an welchen Orten sich die Praxis des Asyls entfalten soll, eng mit dem Asylbegriff verbunden. Die folgende Skizze dieses Zusammenhangs setzt im 17. Jahrhundert an. Bestimmte sozial- und ideengeschichtliche Elemente des frühneuzeitlichen Asylrechts können zu einer politischen Perspektive beitragen, die dem sich intensivierenden Zusammenspiel von hyper-territorialization und remote border control eine Konzeption zugänglicher und gemeinsamer Räume entgegensetzt.
Denn historisch ist der Asylbegriff eng mit dem Anspruch verbunden, politisch-rechtliche Ordnungen mit einer Schwelle zu versehen, die sie auch jenseits der Entscheidungsmacht eines Souveräns für Fremde oder Notleidende zugänglich hält. Wenn das moderne Asylrecht seit dem 19. Jahrhundert, wie der Historiker Karl Härter schreibt, »im Vergleich zur Vielfalt der frühneuzeitlichen Asyle eine deutliche Einschränkung« darstellt, so lassen sich aus dem historischen Blick auf diese vormodernen Formen zwar für die Gegenwart keine Lösungen ableiten, wohl aber lässt sich eine Geschichte vergangener Manifestationen und Deutungsansprüche des Asyls rekonstruieren, die eine kritische Perspektive auf das Verhältnis von Asyl und Raum schärfen kann.
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