Ausweitung der Komfortzone
von Angelika Schwarz»Licht, das mit einem Fingerdruck an- oder ausgeht; eine Lufttemperatur, die unabhängig von den Jahreszeiten ist; Wasser, das auf Befehl, ganz nach Wunsch, jederzeit und überall heiß oder kalt fließt; all das und der Körper, der dadurch geformt wird …«. So beschreibt Lucien Febvre den »modernen, selbstzufriedenen Komfort« als Kernelement der westlich-urbanen Lebensweise. Künstliche Beleuchtung, Zentralheizungen und Klimaanlagen zählen neben elektrischen Haushaltsgeräten oder gepolsterten Möbeln zu den Requisiten des komfortablen Lebens, die in ihrer selbstverständlichen und allgegenwärtigen Verfügbarkeit den Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften markieren. Die Ausrichtung auf Komfortbedürfnisse wirkt sich auf subtile, aber doch einflussreiche Weise auf die Gestaltung des Alltagslebens aus.
Ganze Industriezweige von der Ergonomie bis zur Klimatechnik orientieren sich beispielsweise an der Definition des Komfortablen. Die Gebäudeplanung und Architektur, das Design und die technische Ausstattung von Innenräumen sind auf die Frage spezialisiert, wie Aufenthaltsorte eingerichtet sein müssen, um dem menschlichen Organismus eine möglichst angenehme und stressfreie Erfahrung zu bereiten. In Febvres Formulierung klingt jedoch bereits an, dass das Bedürfnis nach Komfort, also nach Zuständen des Angenehmen, des Behaglichen oder des Bequemen, nicht immer schon da ist und lediglich auf seine Realisierung durch den technologischen Fortschritt wartet. Die moderne Anspruchshaltung auf ein komfortables Leben wird im Gefüge von kulturellen Dispositionen und technischer Infrastruktur überhaupt erst »geformt« – sie ist Gewöhnungssache.
Was dem Körper zugemutet werden kann und welche Grenzen der Empfindlichkeit berücksichtigt werden müssen, ist seit den jüngsten Debatten um eingeschränkte Energielieferungen erneut zur politischen Streitsache geworden. Bei der Aufrechterhaltung von westlichen Komfortstandards – das weiß auch das Bundeswirtschaftsministerium – handelt es sich um eine energieintensive Angelegenheit. Nicht nur der aktuelle Krisenwinter, auch die langfristige Erwartung extremer Temperaturereignisse rücken Szenarien des Ungemütlichen erneut in den Raum des Möglichen. Auch wenn der Rede vom Komfort stets der Verweis auf natürliche und überhistorische Bedürfnisse anzuhören ist, werden die Grenzen des Erträglichen je nach Krisenlage neu vermessen.
Im Klammergriff der Behaglichkeit
Das Verständnis von Komfort, das auch uns noch geläufig ist, verallgemeinert sich in der Arbeitsgesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt häufen sich die Klagen über das Auseinanderdriften der Bedürfnisse des individuellen Körpers und die beschleunigte Entwicklung der Industrialisierung. Die pathologischen Erscheinungen der Entfremdung, Depression und Neurasthenie gehen auf das Konto einer Arbeitswelt, die keinen Stillstand mehr kennt. Zugleich gibt es eine große Aufmerksamkeit für die Widerstände des Körpers, der auf Pausen und Erholung angewiesen bleibt.
In der Arbeitspsychologie und -physiologie wird die Frage, wie mit Energieressourcen umzugehen sei, um den Erhalt der Arbeitskraft zu sichern, zum dominanten Diskussionsgegenstand. Der erschöpfte und der Regeneration bedürftige Körper kommt in dieser Zeit also durchaus zu seinem Recht – das arbeitet Sigfried Giedion in Mechanization Takes Command anhand seiner Lektüre von Patentzeichnungen, Fotografien und Werbebroschüren heraus. Nicht nur die Bewegungsabläufe in der Fabrik werden präzise rationalisiert, auch in der heimischen Sphäre hält eine Optimierungslogik Einzug, die auf den größtmöglichen Komfort ausgerichtet ist.
»Demokratisierung des Komforts« nennt Giedion diese Entwicklung, im Zuge derer verstellbare Autositze oder gepolsterte Couch-Garnituren erstmals in Serienproduktion gehen, um den Bedarf nach schonenden und anpassungsfähigen Artefakten nicht nur einigen Wohlhabenden zu ermöglichen. Dass überhaupt so viele Erfindungen für den Heimgebrauch aus dem 19. und 20. Jahrhundert in ihren Bauplänen auf ein fein gegliedertes Spektrum der physiologischen Empfindlichkeiten abgestimmt sind, offenbart bereits etwas über das veränderte psychologische Verhältnis zwischen Menschen und Dingen.
Indizien für diese neue Anspruchshaltung gegenüber der materiellen Umgebung lassen sich an einer semantischen Verschiebung ablesen. Noch 1713 findet man unter dem Eintrag »comfort« im New English Dictionary die Stichworte »help, ease or relief in distress«. Vorrangig meinte man damit emotionale Unterstützung, Trost und Zuspruch in herausfordernden Lebenssituationen. Einige Jahrzehnte später wird neben dieser affektiven auch eine materielle Begriffskomponente aufgeführt. Fortan versteht man unter Komfort einen Komplex, der das physische Wohlbefinden eines Körpers im Austausch mit seiner Umwelt meint. Diese neue lexikalische Aufmerksamkeit für die materiellen Bedürfnisse des Menschen greift einen Bedeutungswandel auf, der gleichermaßen in natur- wie geisteswissenschaftlichen Publikationen der Zeit vorbereitet wurde. In bautechnischen Zeichnungen, aber auch in philosophischen Abhandlungen der politischen Ökonomie oder in der Literatur der Romantik finden sich vermehrt Hinweise auf die Vorliebe für das Komfortable, das zunehmend mit der Einrichtung der häuslichen Sphäre in Verbindung gebracht wird.
Für Trost und Zuspruch ist man nun nicht mehr ausschließlich auf Menschen angewiesen; man findet ihn bei den Dingen. »Eine Umgebung, die ganz für mich Partei ergreift, das ist Komfort«, so definiert es Eduard von Keyserling. Von großen Kunstwerken im heimischen Wohnzimmer sei daher abzuraten: »Vor einem Bilde hat jeder sich hinzustellen, wie vor einem Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde […] In unseren Wohnungen aber wollen wir, dass alles nur warte, bis wir es anreden […] Das Kunstwerk ist zu selbstherrlich, als dass wir es zwingen könnten, zu dienen. Luxus ist nicht Komfort. Die Pracht als solche in unserem Leben ist wie eine Geliebte, der wir Opfer bringen, um sie zu genießen. Der Komfort ist eine Gattin, die sorgsam und aufmerksam die Harmonie des Daseins um uns breitet, das Leben leicht und mühelos macht.«