Heft 877, Juni 2022

Befreiungspsychologie

Frantz Fanon und der Glaube an Gewalt als Therapie von Kwame Anthony Appiah

Frantz Fanon und der Glaube an Gewalt als Therapie

Sie hatten es auf ihn abgesehen. Daraus sprachen Furcht und Anerkennung zugleich. Frantz Fanon war Psychiater, er kannte sich aus mit der Ambivalenz von Gefühlen. In die Schusslinie war er allerdings aufgrund seiner revolutionären Aktivitäten in Algerien geraten. Die Kette der Ereignisse, die das zur Folge hatte, setzte mit einem Vorfall im Mai 1959 ein: Fanon war unterwegs zu einem Stützpunkt von algerischen Aufständischen an der marokkanischen Grenze, als der Fahrer die Kontrolle über den Wagen verlor und Fanon aus dem Auto herausgeschleudert wurde, wobei er schwere Rückenverletzungen erlitt. Manche behaupteten, die Straße sei vermint gewesen; andere meinten, das Auto sei präpariert worden.

Fanon wurde zur medizinischen Behandlung nach Rom geflogen. Auch hier sprang er dem Tod nur knapp von der Schippe: Seine Mitstreiter von der Nationalen Befreiungsfront Algeriens (FLN) ließen ihn mit einem Auto vom Flughafen abholen – an dem Fahrzeug hatten ihre Gegner Sprengstoff angebracht. Fanon kam nur deshalb mit dem Leben davon, weil der verirrte Ball eines Kindes die Bombe vorzeitig explodieren ließ. Eine Lokalzeitung berichtete dann über die Ankunft eines verletzten FLN-Funktionärs, mit dem die Explosion offenbar in Zusammenhang stand. Sogar das Krankenhaus, in dem er behandelt werden sollte, wurde genannt. Zwei bewaffnete Männer stürmten das ihm zugewiesene Zimmer und richteten ihre Waffen auf ein leeres Bett. Fanon hatte sich vorsorglich in ein anderes Zimmer verlegen lassen.

Ein Jahr später wartete er auf dem Flughafen von Monrovia, Liberia, auf einen Flug nach Conakry, Guinea, als man ihm und seinen FLN-Genossen mitteilte, das Flugzeug sei voll. Sonderbar zuvorkommende Mitarbeiter der Air France versicherten ihm, die Fluggesellschaft würde sie auf einen Flug am nächsten Tag buchen und die Kosten für die Übernachtung übernehmen. Fanon war auf der Hut: Allen war noch frisch im Gedächtnis, wie der FLN-Führer Ahmed Ben Bella vier Jahre zuvor gefangen genommen worden war, als sein Flugzeug mit französischer Besatzung von Rabat nach Tunis eine außerplanmäßige Zwischenlandung in Algier einlegte. Fanon und seine Kameraden brachen also mit dem Auto nach Conakry auf. Sie erfuhren später, dass der Flug, auf den sie umgebucht werden sollten, nach Abidjan umgeleitet und vom französischen Sicherheitsdienst gefilzt worden war. Wieder eine knappe Sache.

Wie kam es dazu, dass sich ein Psychiater inmitten eines solchen Irrsinns wiederfand? Wie wurde aus jemandem, der auf den Antillen geboren worden war, ein algerischer Revolutionär? Wie wurde aus einer zunächst unscheinbaren Figur der »für das 21. Jahrhundert wichtigste« revolutionäre Intellektuelle, wie Cornel West in seiner energischen Einleitung zu einer Jubiläumsausgabe von Die Verdammten dieser Erde schreibt? Um zu verstehen, wie Fanon zu dem wurde, der er war, muss man sich anschauen, wie er angefangen hat.

Bildungskarriere

Es ist eine etwas unbequeme historische Wahrheit, dass die schärfsten Gegner des Kolonialismus größtenteils aus dem Bildungsbürgertum stammten. Geboren 1925 auf der in französischem Besitz befindlichen Antilleninsel Martinique, wuchs Fanon in einer Familie auf, in der es Bedienstete, privaten Musikunterricht für seine Schwestern und neben einem komfortablen Haus in der Hauptstadt auch ein Landhaus mit üppigem Garten gab. Sein Vater war Zollbeamter; seine Mutter, die offenkundig elsässische Vorfahren hatte, besaß einen Laden und – so David Macey, der Autor einer vorzüglich recherchierten und umsichtigen Biografie über Fanon – einen Sinn fürs Geschäftliche. Fanon genoss eine hervorragende Ausbildung am Lycée Victor Schœlcher, an dem der Dichter Aimé Césaire Literatur lehrte.

Weil Fanon davon überzeugt war, dass die Freiheit »unteilbar ist«, meldete er sich 1944 bei Charles de Gaulle’ Forces françaises libres. Es sollte eine nicht minder wichtige Etappe auf seinem Bildungsweg werden. In Nordafrika, wo er stationiert wurde, war die Rassenhierarchie unübersehbar. Fanon mag seine eigenen Vorurteile mitgebracht haben – in der französischen Karibik wurde man regelrecht dazu erzogen, Menschen aus Afrika südlich der Sahara zu verachten –, aber nun stellte sich heraus, dass die Araber alle Menschen dunkler Hautfarbe unterschiedslos verabscheuten und dass weiße Franzosen, obwohl sie die Bewohner der Antillen über Araber sowie Schwarzafrikaner stellten, sich letztlich allen anderen überlegen fühlten.

Als Fanons Bataillon nach Nordfrankreich und den Rhein hinauf geschickt wurde, wo ihn Granatsplitter in der Brust trafen, vertiefte sich seine Enttäuschung. Er hatte sich ins Gefecht geworfen für »Bauern, die sich einen Dreck scheren«. Bei den Feierlichkeiten anlässlich der Befreiung Frankreichs wollten die französischen Damen nicht mit einem Schwarzen tanzen, der doch sein Leben für sie riskiert hatte. Fanon war ein gebildeter Franzose, er hatte sich die Schätze der französischen Kultur einverleibt. Warum behandelte man ihn nicht entsprechend?

Immerhin stand ihm aufgrund seines Militärdiensts freier Zugang zu höherer Bildung zu, und so kam er nach Paris, wo er ein Studium der Zahnmedizin aufnahm. »Es gibt zu viele nègres in Paris«, schrieb er seinem Bruder Joby und bezog sich damit offensichtlich auf die Afrikaner, die er zu verachten gewohnt war, »und je weniger ich von ihnen sehe, desto besser geht es mir.« Nach einigen Wochen zog er nach Lyon, belegte einige naturwissenschaftliche Grundkurse und nahm ein Medizinstudium auf. In seiner Freizeit las er stapelweise Bücher und besuchte die Philosophievorlesungen von Maurice Merleau-Ponty. Er bekam ein Kind mit einer Kommilitonin aus dem Medizinstudium. (Die Vaterschaft erkannte er zwar an, wollte darüber hinaus aber weder mit der Frau noch mit der gemeinsamen Tochter etwas zu tun haben.) Er verfasste Theaterstücke, teils vermutlich, weil Jean-Paul Sartre, der Inbegriff französischer Intellektualität, das ebenfalls tat. Aber Fanon hatte schon immer einen Hang zum Dramatischen, im Großen wie im Kleinen: In einem Brief aus Lyon an seine liebe Maman erklärte er: »Ich glaube, ohne Kaffee muss ich sterben.«

Er ging gern ins Kino. Und das ist nicht nur so dahergesagt. Fanon liebte Filme – ihn als »cinephil« zu bezeichnen wäre vielleicht etwas zu hoch gegriffen für jemanden, der sich die Blockbuster seiner Zeit ebenso gerne ansah, wie er sich über sie beschwerte. Ein Freund, der mit Fanon gemeinsam zur Armee gegangen war, erinnerte sich, dass er sich während eines Fronturlaubs dazu überreden ließ, einen furchtbaren Film anzuschauen, weil Fanon ihm versichert hatte, es handele sich um ein »wunderbares amerikanisches Musical«. In der Forschung gibt es viel Material darüber, inwiefern Fanon von Merleau-Ponty beeinflusst wurde, über den Einfluss, den Filme auf ihn hatten, gibt es weniger. Doch die Leinwand sprach zu ihm, und es bereitete ihm Freude, mit ihr in Dialog zu treten.

Schauen wir uns zum Beispiel die einigermaßen rätselhafte Tatsache an, dass er sich 1949 für einen Fachwechsel entschied, zur Psychiatrie, eine Spezialisierung, für die er sich zuvor nicht sonderlich interessiert hatte. Natürlich gibt es für eine solche Entscheidung immer mehr als nur einen Auslöser. Aber man sollte nicht außer Acht lassen, welche Faszination der Hollywood-Film Home of the Brave auf ihn ausgeübt hatte, der im selben Jahr herausgekommen war. (In seinem ersten Buch Schwarze Haut, weiße Masken bezieht sich Fanon mehr als einmal auf ihn.) Der Film handelt von einem schwarzen GI, der sich mit einer Reihe weißer Soldaten freiwillig für einen Pazifik-Einsatz meldet und mit einer hysterischen Lähmung zurückkehrt. Im Lauf des Films erforscht ein Psychiater, er wird immer nur »Doktor« genannt, die Psyche der Hauptfigur mittels »Narkosynthese« – einer Technik, bei der der Patient durch Schlafmittel wie Thiopental in einen tranceähnlichen Zustand versetzt wird, um dadurch Erinnerungen, die ihn umtreiben, zurück ins Bewusstsein zu holen. Der Psychiater stellt fest, dass der Zustand des Soldaten zwar durch ein erst kürzlich erlittenes Trauma ausgelöst wurde, tatsächlich aber mit rassistischen Erfahrungen aus der Kindheit – und generell historischen Ungerechtigkeiten – zusammenhängt.

»Es ist das Vermächtnis«, erklärt der Arzt, »von einhundertfünfzig Jahren Sklaverei. Von Bürgerrechten zweiter Klasse. Vom ›Anderssein‹«. Durch die Aufarbeitung dieser persönlichen und sozialen Traumata stellt der Arzt die Gesundheit des Mannes wieder her. Der Film hatte den vierundzwanzigjährigen Fanon zutiefst beeindruckt. Wie auch nicht? Der Seelenklempner ist ein breitschultriger Mann, ein wahrer Meister seines Fachs, der mit Spritzen ebenso behände umzugehen versteht wie in der Gesprächstherapie mit Worten: Selbst die vom Rassismus geschlagenen Wunden heilt er im Handumdrehen.

Narkosynthese

In dem Jahr, in dem Fanon sich für seinen Beruf entschied, lernte er auch die achtzehnjährige Gymnasiastin Josie kennen, deren linksgerichtete Eltern gegen ihre Heirat drei Jahre später keinerlei Einwände erhoben. Es kam ihm durchaus gelegen, dass sie eine geübte Schreibkraft war, da Fanon es vorzog, seine Texte zu diktieren und laut zu deklamieren, während er auf und ab ging. Und bald gab es viel zu tippen. 1951 veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel L’expérience vécue du Noir (»Die erlebte Erfahrung des Schwarzen«), der das Kernstück von Schwarze Haut, weiße Masken bilden sollte, das im folgenden Jahr erschien. (Der Titel bezog sich auf Die gelebte Erfahrung, den zweiten Band von Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht von 1949.)