Heft 881, Oktober 2022

Beim Denken eines Anderswo

Zu den Film- und Videoarbeiten der documenta fifteen von Cristina Nord

Zu den Film- und Videoarbeiten der documenta fifteen

1971 gibt Sun Ra mehrere Konzerte in Kairo. Nach Ägypten reist der Jazzmusiker, Poet und Denker mit viel Gepäck, weil die Zeit der Pharaonen für ihn, der die Vorstellungen von schwarzer Kultur wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen prägt, eine mythologische Basis darstellt. Aus diesem glorreichen Vorvorgestern leiten sich der Entwurf und der Traum einer Zukunft ab, so dass die Nöte der Gegenwart – die Segregation in den Südstaaten der USA ist erst seit wenigen Jahren aufgehoben – überwindbar erscheinen. Der nach vorne, nach hinten, zur Seite und in den Kosmos mäandernde Zeitfluss des Afrofuturismus umschließt die Pyramiden von Gizeh, und die Ägypten-Reise ist für Sun Ra eine Rückkehr in ein imaginäres Zuhause.

So lautet die These des experimentellen Kurzfilms Pepsi, Cola, Water?, den der belgische Künstler Tom Bogaert 2015 gedreht hat und der zum Filmprogramm der documenta fifteen gehört. Bogaert widmet sich Sun Ras Aufenthalt in Ägypten auf eine dem Sujet angemessene, spekulative, Unverbundenes und Zufälliges verschweißende Art. Leitmotive des Afrofuturismus – vor allem das Raumschiff – tauchen auf, weil, so Bogaerts Spekulation, die Pyramiden von Gizeh ein Ort seien, an dem Erde und All kommunizierten. Nachdem die allabendlichen Lichtspiele an den Pyramiden sie angelockt hätten, seien hier Ufos gelandet. Die Lichtshow, so Bogaerts Fantasie, habe es Sun Ra besonders angetan. Zugleich seien die hohen Erwartungen des Musikers enttäuscht worden: Weil er mehrere rassistische Erlebnisse gehabt habe, sei der Glauben an die pharaonische Vorvergangenheit, an Heimkehr und Heimat beschädigt gewesen, und Sun Ra sei nach zwei Wochen enttäuscht abgereist.

Die Wechselwirkungen aus Hoffnungen, Projektionen, Visionen einer besseren Zukunft, Vergangenheitsbeschwörungen und Enttäuschungen, die sich in den kurzweiligen zehn Minuten von Pepsi, Cola, Water? entspannen, lassen sich von Bogaerts Film lösen und auf den größeren Kontext der diesjährigen documenta ausdehnen. So wie sich Sun Ra von Ägypten viel verspricht, so tritt die documenta fifteen mit der Hypothese an, dass sich ein Weg aus der krisengeschüttelten Gegenwart finden lasse, sobald man nach Süden blicke. Wer sich Praktiken und Mythen, Bildwelten und Wirtschaftsweisen in afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern zuwendet, hat die Chance, die Defizite der eurozentrischen Perspektive zu erkennen und zu überwinden.

Wo die Kunst durchlässig zum Aktivismus, das Konzept der Urheberschaft des Einzelnen einer Revision unterzogen, Verantwortung geteilt und Kontrolle abgegeben wird, da scheint, gehüllt in freundliche indonesische Vokabeln wie lumbung und nongkrong, das Versprechen von Umverteilung, Inklusion und freundlicher Geselligkeit auf. In Kassel, so die Hoffnung, entstehen Ideen für eine Welt von Morgen, die die globalen Machtasymmetrien und die Malaise, in der wir stecken, mindestens lindern. Dass daran etwas sein könnte, liegt angesichts eines Planeten, der sich im ökologischen, pandemischen und militärischen Krisenmodus befindet, nicht fern.

In einem anderen Kontext und mit Blick auf Afrika hat es der senegalesische Autor Felwine Sarr einmal so formuliert: »Die afrikanischen Kulturen und Kosmologien halten für das Projekt einer erkenntnistheoretischen Dezentrierung fruchtbare und reichhaltige Ressourcen bereit. Die Erschöpfung der technisch-wissenschaftlichen Vernunft und die Konsequenzen ihrer Sackgassen für die Zivilisation verlangen nach neuen Zukunftsmetaphern, nach der Erneuerung der Vorstellungskraft und dem Denken eines Anderswo.«

Die »Zukunftsmetaphern«, die sich in Kassel abzeichnen, können Anregungen bergen. Und Risiken. Denn je größer die Versprechungen, umso näher liegen Naivität und Hybris. Das Ziel dieses Textes ist es, die diesjährige documenta in ihren Ansprüchen, Selbsteinschätzungen und Wünschen beim Wort zu nehmen. Er wird sich damit beschäftigen, wie die Ausstellung zwischen dem Norden und Westen einerseits und dem Süden andererseits vermittelt. Mit welchen Selbst- und Fremdbildern tritt sie an? Welche blinden Flecken werden dadurch erhellt, und welche dehnen sich nur umso weiter aus? Wo gibt es produktive Inspirationen und Irritationen, wo einengendes Framing, Othering und Enttäuschungen? Kurz: Wie ist es um die Sarr’sche »Erneuerung der Vorstellungskraft« bestellt? Um diese Fragen zu diskutieren, werde ich vor allem die Film- und Videoarbeiten in den Blick nehmen.

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