Black Atlantics
von Adom GetachewVor etwas mehr als zehn Jahren verbrachte ich zwei Monate in Trinidad, um für mein erstes Buch in den Archiven der University of the West Indies zu forschen. Ich wohnte in einem Gästehaus, das von einer presbyterianischen indo-trinidadischen Familie geführt wurde. Als meine Gastgeber hörten, dass ich aus Äthiopien komme, berichteten sie mir von der Äthiopischen Orthodoxen Gemeinde auf der Insel und machten mich mit dem Erzbischof bekannt, der für die Kongregationen in der Karibik und in Lateinamerika zuständig war.
Mein Besuch eines Gottesdienstes war eine so verstörende wie bewegende Erfahrung. Tausende Meilen entfernt von Äthiopien erlebte ich, wie die Rituale, mit denen ich aufgewachsen war, von den Bewohnern Trinidads mit einem Enthusiasmus vollzogen worden, zu dem es bei mir nie gereicht hatte. In Äthiopien wie in den USA verwendet die Äthiopische Orthodoxe Kirche im Gottesdienst noch immer Ge’ez (eine klassische Liturgiesprache, ähnlich wie Latein). Da ich mit dieser biblischen Sprache nicht vertraut bin, war mir immer etwas unklar geblieben, worum es in den Gesängen ging. In Trinidad aber war die Liturgie ins Englische übersetzt worden, so dass ich einen ganz anderen Zugang zu dem Glauben bekam, in den ich hineingeboren wurde.
Bei meinen Besuchen orthodoxer Kirchen auf der ganzen Insel habe ich mich mit einer Frau namens Semrete angefreundet (den Namen hat sie nach ihrer Taufe angenommen) und viele Wochenenden mit ihrer Familie verbracht. Sie erzählte mir, dass sie vom Rastafari-Glauben zur orthodoxen Kirche gewechselt sei, weil diese ihr ein Schwarzes Christentum ohne das Erbe des europäischen Kolonialismus anbot. Sie erzählte mir von ihrem Wunsch, nach Äthiopien zu reisen, ihr Mann sei als Priester schon dort gewesen. Und ich versprach ihr auf ihre Bitte hin, ihr religiöse Kalender und weiße Habesha-Baumwollkleider und -Schals für die Kirche zu schicken, sobald ich zurück in den Vereinigten Staaten wäre. Ich halte mich bis heute daran.
An meinem letzten Sonntag in Trinidad fuhr uns Semretes Mann nach dem Gottesdienst und dem Mittagessen an die Ostküste der Insel. Dort erklärte mir Semrete: Würden wir Trinidad hier hinter uns lassen und den Ozean überqueren, wäre das nächste Stück Land, auf das wir stießen, Afrika. Es war ein poetischer Moment, mir kommen verlässlich die Tränen, wenn ich diese Geschichte erzähle. Ich verstand die Wehmut, mit der sie gen Osten blickte, aber teilen konnte ich sie nicht. Zwölf Jahre davor hatte meine Familie von der anderen Seite des Atlantik in Richtung Vereinigte Staaten geblickt. Die Kirche, die für Semrete ein Schwarzes Christentum repräsentierte, war die, die mein Vater als Student verlassen hatte, weil er zu dem Schluss gekommen war, dass sie im monarchisch regierten Äthiopien als Instrument der Herrschaft fungierte. Auch ich hoffte, Äthiopien besuchen zu können, aber ich spürte die Last von Exil, Schuld und des Wissens um unmöglich erfüllbare Erwartungen.
Ich will nicht einfach Semretes imaginiertes Afrika neben mein »wirkliches« stellen. So wie Semrete ein romantisiertes Afrikabild hatte, so war auch mein Bild eines afroamerikanischen Amerika, das ich mit dem politischen Konservatismus und der kulturellen Insularität Äthiopiens kontrastierte, rosa gefärbt. Die Verbindung, die wir beim gemeinsamen Blick hinaus auf den Atlantik spürten, war aus Erkennen und Verkennen zusammengesetzt; es war etwas von einander Verstehen, aber auch von einem aneinander Vorbeisehen darin.
Als ich in die USA kam, war ich dreizehn und wurde in die damalige Washington-Lee (und heutige Washington-Liberty)-High School in Arlington, Virginia, eingeschult. Meine Klassen waren voller unlängst ins Land gekommener Immigranten aus Mittelamerika und Ostafrika sowie Kindern afroamerikanischer Familien mit einer langen Geschichte in diesem Staat – und sie repräsentierten damit die wachsende Diversität des nördlichen Virginia. Ich kann mich nicht an irgendwelche weißen Schülerinnen oder Schüler erinnern. Das änderte sich in meinem zweiten Jahr, als ich in Klassen für Fortgeschrittene kam, um mich auf das Internationale Abitur vorzubereiten. Erst zur Jahreshälfte tauchte ein zweiter Schwarzer Schüler in meiner Mathe-Klasse auf.
Es war offensichtlich, dass etwas namens »race« mit dieser abgründigen Erfahrung zu tun hatte – und mir schien, dass ich möglichst alles darüber in Erfahrung bringen sollte. Im Unterricht erfuhr ich wenig dazu, aber die Black History Awareness Society, eine vom Koordinator für Minderheitenerfolge, einem Absolventen der Howard University, unterstützte Schülergruppe, wurde für mich zu einem wichtigen Anlaufpunkt. Ich vergrub mich in Recherchen zur Harlem Renaissance und war Ko-Regisseurin eines Stücks über große Persönlichkeiten dieser Zeit, das wir für den Black History Month einstudierten. Ich erfuhr von Marcus Garveys Bewegung und den Gedichten von Langston Hughes. Ich kleidete mich in einen Fake-Pelzmantel und spielte Zora Neale Hurston, genoss die Rolle als selbstbewusste Schriftstellerin, die kein Blatt vor den Mund nahm – so weit entfernt von meiner eigenen Unbeholfenheit und Unsicherheit.
Ermutigt vom Unterstützer der Society besuchte ich ein Sommerprogramm »Internationale Beziehungen« an der Howard University. Zwei Jahre später, als Undergraduate an der Universität von Virginia, entschied ich mich für African American Studies als Hauptfach und wählte gezielt extrakurrikulare Fächer, mit denen ich hoffte, mich weiter in Schwarze Politik, Kultur und Geschichte vertiefen zu können. So sahen meine Anstrengungen aus, meine neue Heimat zu verstehen und einen Platz in ihr zu finden. Was ich am Ende in den African American Studies fand, war aber ein Fenster zur Welt, das mich nach Trinidad brachte. Und zu Semrete.
In den Vereinigten Staaten neigen wir dazu, »race« entlang der sauberen Zweiteilung der Farblinie – Schwarz gegen weiß – zu verstehen, obwohl die sich rasch ändernde Demografie diese Binarität zusehends unterläuft. Der Forscher Louis Chude-Sokei hat Begegnungen innerhalb derselben »race« zu seinem Thema gemacht – also Begegnungen wie die zwischen Semrete und mir, die die diasporische afrikanische Erfahrung formen. In inzwischen drei Büchern hat Chude-Sokei, Professor für Englisch und afroamerikanische und Schwarze Diaspora-Studien an der Universität Boston, die alltäglichen Begegnungen untersucht, in denen Menschen unterschiedlich positionierter afrikanischer Diaspora-Gruppen ihre Identitäten aushandeln. The Last »Darky« beschäftigt sich mit dem Blackface-Performer Bert Williams. The Sound of Culture untersucht den musikalischen und klanglichen Ausdruck im Zusammenhang von »race« und Technologie. In beiden und ganz besonders in seinem Memoir Floating in a Most Peculiar Way konzentriert sich Chude-Sokei auf den »intersubjektiven und mikropolitischen Prozess« der Diaspora.
Chude-Sokeis Arbeit konfrontiert einen mit Erfahrungen, die oft zum Schweigen gebracht werden, weil sie entweder für eine öffentliche Diskussion zu schmerzhaft oder für die politische Sache, die mit dem Insistieren auf der Einheit der Schwarzen, vorangebracht werden soll, nicht hilfreich sind. Er hält wenig von grandiosen Momenten panafrikanischer Solidarität, in denen eine vereinte Stimme erforderlich scheinen kann, und besteht darauf, dass Konflikt, Anfechtung, Hierarchien und vor allem Differenzen innerhalb Schwarzer Gemeinschaften ins Zentrum von African-Diaspora-Studien gehören.
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