Charles de Gaulle
Die französische Ausnahmegestalt von Grey AndersonDie französische Ausnahmegestalt
Kein europäischer Staatsmann des vergangenen Jahrhunderts genießt in seiner Heimat ein derart hohes Ansehen wie Charles de Gaulle. Verglichen mit ihm waren seine Zeitgenossen Konrad Adenauer und Harold Macmillan mittelmäßige Gestalten. Zu Lebzeiten mag de Gaulle die Gemüter noch gespalten haben, doch seit den 1980er Jahren steigt sein Stern. Die Jubiläumsfeiern zu seinem hundertsten Geburtstag im Jahr 1990 festigten einen durch das gesamte politische Spektrum mitgetragenen, glorifizierenden Konsens, der durch Pierre Lefrancs Institut Charles de Gaulle seine wissenschaftlichen Weihen erhielt. Die vom Institut organisierte einwöchige internationale Gedenkkonferenz begann mit einer Messe in Notre-Dame. Amtliche Rituale, Popkultur und öffentliche Meinung haben das Bild seither nur noch weiter befestigt. Ein derart salbungsvolles Gedenken macht es Historikern nicht leicht. Jede De-Gaulle-Biografie hat mit den Auswüchsen eines Personenkults zu kämpfen, den der General selbst begründet hat. Hier liegt das Urbild des connétable, des Stallmeisters der Nation, der Kassandra der Zwischenkriegskrise, des Erlösers der besiegten Nation und des Architekten ihrer modernen Republik.
Wie der britische Historiker Julian Jackson ein Jahrzehnt nach den Feierlichkeiten von 1990 feststellte, fiel die öffentliche Heiligsprechung de Gaulles mit dem Niedergang einer Version der Geschichte Frankreichs zusammen, zu deren Petrifizierung de Gaulle tatkräftig beigetragen hatte. Die Zeit unter deutscher Besatzung, die Résistance und der Algerienkrieg, all diese Ereignisse wurden in den vergangenen Jahrzehnten einer umfassenden Neubewertung unterzogen, die darauf zielte, wichtige Grundpfeiler des Gaullismus wenn nicht zu zerstören, so doch zu untergraben. Endlich bekamen auch die Schattenseiten von de Gaulles eigenen Aktivitäten mehr Aufmerksamkeit, vom Fiasko seiner Partei Rassemblement du peuple français (RPF) nach dem Krieg bis hin zum verschleppten Endspiel in Nordafrika. Die Arbeit am Mythos de Gaulles verlief parallel zu dessen historiografischer Entzauberung. Jackson greift diesen Widerspruch in seiner neuen Biografie auf.1 Sie zeigt den Historiker auf der Höhe seines schriftstellerischen Könnens, das er schon in seinen Arbeiten über die 1930er Jahre, über die Besatzungszeit und über das schwule Leben im Frankreich der Nachkriegsjahre unter Beweis gestellt hat. Alle diese Studien sind Referenzwerke, überzeugend in ihrer synthetischen Kraft.
Gestützt auf bisher nicht zugängliche Archivmaterialien und einen umfassenden Überblick über den Stand der Forschung betritt Jackson mit A Certain Idea of France ein viel beackertes Feld. Nur Napoleon wurde in Frankreich mehr biografische Aufmerksamkeit zuteil als de Gaulle. Zu nennen wären zunächst Jean Lacoutures drei Bände aus den Jahren 1984 bis 1986, die in gekürzter Fassung auch auf Englisch vorliegen, dann einige nichtfranzösische Werke wie De Gaulle e il gollismo des italienischen Senators Gaetano Quagliariello aus dem Jahr 2003 oder das 2010 erschienene Buch The General des britischen Journalisten Jonathan Fenby.
Neben der Arbeit Lacoutures hebt Jackson die 1999 und 2002 erschienenen Biografien von Paul-Marie de La Gorce und Eric Roussel hervor. Die beiden kommen bei vergleichbarer Länge (jeweils über tausend Seiten, ein Drittel des Umfangs von Lacoutures Trilogie) zu gegensätzlichen, den politischen Neigungen ihrer Autoren entsprechenden Urteilen: linker Gaullismus im Fall von de La Gorce, eines Mitglieds der Résistance und langjährigen Mitarbeiters von Le Monde diplomatique, der in de Gaulle den Dekolonisator und Verfechter der Bündnisfreiheit bewundert; konservativer Euro-Atlantizismus bei Roussel, der den General insgesamt negativer bewertet. Jackson schlägt eine Sicht auf die Gaulle vor, die weder glorifizierend noch feindselig ist. Wenn sie auch keinen Anspruch auf eine radikale Neueinschätzung erhebt, so bildet sie doch all die Spannungen genauestens ab, welche die feierliche Grabesruhe Lügen strafen.
De Gaulle wurde am 22. November 1890 in Lille geboren. Seine frühen Jahre verbrachte er inmitten der »militärischen Melancholie« des 7. Arrondissements von Paris, zwischen dem Hôtel des Invalides und der Ecole Militaire. Seine Mutter stammte aus einer wohlhabenden Industriellenfamilie des nordfranzösischen Bürgertums und hatte familiäre Verbindungen nach Irland. Die väterliche Linie ging auf niederen Amtsadel zurück, eine kultivierte Pariser Familie mit schwindendem Vermögen. Beide Erblinien waren zutiefst konservativ und katholisch. Den säkularen Werten der Dritten Republik standen sie feindlich gegenüber. De Gaulle wurde zunächst von den Christlichen Brüdern unterrichtet, dann an einer jesuitischen Schule. Früh nahm er den vitalistisch-romantischen Nationalismus seiner Zeit in sich auf, Autoren wie Bergson, Péguy, Barrès. 1908 immatrikulierte er sich an der Offiziersschule Saint-Cyr und kam nach seinem Abschluss zu einem Infanterieregiment in Arras unter dem Kommando Philippe Pétains. Der junge Leutnant begrüßte den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Atmosphäre »einmütiger Begeisterung« erfüllte ihn mit Genugtuung. De Gaulle überlebte das Massensterben in der Champagne und in Verdun. 1916 wurde er in Douaumont verwundet und von den Deutschen gefangengenommen, den Rest der Kriegszeit verbrachte er in Gefangenschaft. Dass er bei Frankreichs Sieg keine bedeutendere Rolle gespielt hatte, empfand er als persönliche Kränkung. Ein Hindernis für sein späteres Fortkommen war dies jedoch nicht. De Gaulle wurde zunächst in Pétains persönlichen Stab berufen und wechselte dann – nach einem kurzen Zwischenspiel in der Levante – in das Sekretariat des Nationalen Verteidigungsrats. Dort befand er sich im Zentrum der gesellschaftlich-militärischen Beziehungen und der Verteidigungsplanung.
In diesen Jahren, in denen er einem Kreis von Intellektuellen und freigeistigen Offizieren um den Militärreformer und ehemaligen Dreyfusarden Emile Mayer angehört, erweitert sich de Gaulles geistiger Horizont. Mit der programmatischen Streitschrift Vers l’armée de métier (Auf dem Weg zur Berufsarmee), die für eine Wehrreform und eine technologische Neuorientierung bei den Streitkräften plädierte, trat er 1934 erstmals öffentlich in Erscheinung. Jackson beschreibt de Gaulles politisches Ideal in dieser Zeit als eine Mischung aus administrativem Autoritarismus und charismatischer Führung. Während der Volksfront-Regierung hielt de Gaulle sich zurück. Die Idee eines Putsches oder pronunciamiento spanischen Vorbilds lehnte er ab. Aus nationalistischen Gründen hielt er Abstand zu den Mehrheitspositionen des französischen Konservatismus. Stattdessen unterstützte er den sowjetisch-französischen Beistandsvertrag von 1935 und verfluchte das Münchner Abkommen. Als die Deutschen im Mai 1940 über die Meuse vorstießen, fuhren die Panzer des Oberst de Gaulle drei kühne, jedoch erfolglose Attacken gegen die 1. Panzerdivision. Zurück in Paris wurde de Gaulle zum Brigadegeneral befördert und als Staatssekretär für Verteidigung ins Kabinett Reynaud berufen. Erfolglos drängte er auf die Entlassung des Kriegsministers Weygand und den Rückzug in eine bretonische Verteidigungsanlage. Zehn Tage später befand de Gaulle sich in seinem Londoner Exil.
Bei aller nachträglichen Legendenbildung und Propaganda bleibt de Gaulles Flucht aus Frankreich am 17. Juni 1940 ein erstaunlicher Akt. Seine Radioansprache tags darauf, in der er Pétains Ersuchen um einen Waffenstillstand geißelte, mögen nur wenige Menschen tatsächlich gehört haben. Doch Jackson sagt zu Recht, dass das wenig zur Sache tut. Die Kühnheit des 18. Juni war ein Unterpfand für vieles, was noch kommen sollte. Welchen Weg de Gaulle wirklich einschlagen würde, blieb aber zunächst offen. Anlass zur Sorge gaben die vielen Monarchisten unter den wenigen Offizieren, die sich ihm angeschlossen hatten, und die reaktionäre Einstellung des Exilgeheimdiensts unter General Passy. Churchill persönlich drängte de Gaulle, Gerüchte über seine »faschistischen Ansichten« zu zerstreuen. Der änderte seinen Ton erst 1942, motiviert vom wachsenden Einfluss der Kommunisten auf die jungen Widerstandskämpfer. »Betrogen von seinen Eliten und privilegierten Klassen, erlebt Frankreich die größte Revolution seiner Geschichte«, verkündete er in einer Radioansprache im April. »Aus seinem stillen Niedergang ersteht ein neues Frankreich, dessen Führer neue Menschen sein werden […] In Zeiten der Revolution wird Frankreich stets vorziehen, mit General Hoche einen Krieg zu gewinnen, als ihn mit Marschall Soubise zu verlieren.«
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