Heft 845, Oktober 2019

Charles de Gaulle

Die französische Ausnahmegestalt von Grey Anderson

Die französische Ausnahmegestalt

Kein europäischer Staatsmann des vergangenen Jahrhunderts genießt in seiner Heimat ein derart hohes Ansehen wie Charles de Gaulle. Verglichen mit ihm waren seine Zeitgenossen Konrad Adenauer und Harold Macmillan mittelmäßige Gestalten. Zu Lebzeiten mag de Gaulle die Gemüter noch gespalten haben, doch seit den 1980er Jahren steigt sein Stern. Die Jubiläumsfeiern zu seinem hundertsten Geburtstag im Jahr 1990 festigten einen durch das gesamte politische Spektrum mitgetragenen, glorifizierenden Konsens, der durch Pierre Lefrancs Institut Charles de Gaulle seine wissenschaftlichen Weihen erhielt. Die vom Institut organisierte einwöchige internationale Gedenkkonferenz begann mit einer Messe in Notre-Dame. Amtliche Rituale, Popkultur und öffentliche Meinung haben das Bild seither nur noch weiter befestigt. Ein derart salbungsvolles Gedenken macht es Historikern nicht leicht. Jede De-Gaulle-Biografie hat mit den Auswüchsen eines Personenkults zu kämpfen, den der General selbst begründet hat. Hier liegt das Urbild des connétable, des Stallmeisters der Nation, der Kassandra der Zwischenkriegskrise, des Erlösers der besiegten Nation und des Architekten ihrer modernen Republik.

Wie der britische Historiker Julian Jackson ein Jahrzehnt nach den Feierlichkeiten von 1990 feststellte, fiel die öffentliche Heiligsprechung de Gaulles mit dem Niedergang einer Version der Geschichte Frankreichs zusammen, zu deren Petrifizierung de Gaulle tatkräftig beigetragen hatte. Die Zeit unter deutscher Besatzung, die Résistance und der Algerienkrieg, all diese Ereignisse wurden in den vergangenen Jahrzehnten einer umfassenden Neubewertung unterzogen, die darauf zielte, wichtige Grundpfeiler des Gaullismus wenn nicht zu zerstören, so doch zu untergraben. Endlich bekamen auch die Schattenseiten von de Gaulles eigenen Aktivitäten mehr Aufmerksamkeit, vom Fiasko seiner Partei Rassemblement du peuple français (RPF) nach dem Krieg bis hin zum verschleppten Endspiel in Nordafrika. Die Arbeit am Mythos de Gaulles verlief parallel zu dessen historiografischer Entzauberung. Jackson greift diesen Widerspruch in seiner neuen Biografie auf.1 Sie zeigt den Historiker auf der Höhe seines schriftstellerischen Könnens, das er schon in seinen Arbeiten über die 1930er Jahre, über die Besatzungszeit und über das schwule Leben im Frankreich der Nachkriegsjahre unter Beweis gestellt hat. Alle diese Studien sind Referenzwerke, überzeugend in ihrer synthetischen Kraft.

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