Darts
von Matthias HanslDarts ist, oberflächlich betrachtet, ein simples und zugleich in jeder Hinsicht denkbar unaufwändiges Geschicklichkeitsspiel. Zwei Kontrahenten werfen abwechselnd jeweils drei Pfeile – die Darts – aus einem bestimmten Abstand auf das Board, eine Scheibe mit 20 symmetrischen, farbig voneinander abgesetzten Kreissegmenten. Die Segmente sind durch zwei schmale Ringe so gegliedert, dass sich, zusammen mit dem kleinen Doppelkreis in der Mitte, insgesamt 82 unterschiedliche Felder ergeben. Jedem Feld ist ein fester Zahlenwert zugeordnet, für jeden Treffer auf dem Board kann es zwischen 1 und 60 Punkten geben. Die erzielten Punkte werden beim Darts allerdings nicht addiert, sondern subtrahiert: Beide Spieler starten mit einem Guthaben von 501 Punkten auf ihrem Konto, gewonnen hat, wem es zuerst gelingt, sein Konto auf Null zu stellen.
Die besten Erfolgschancen hat, wer es schafft, gleich mit den ersten Würfen – jede Dreierrunde wird »Aufnahme« genannt – möglichst hohe Punktzahlen jenseits der 100 zu erzielen, wofür die kleinen, besonders schwer anzuvisierenden Triple-Felder im mittleren Reifen des Boards getroffen werden müssen.1 Neben der Höhe des Scorings müssen die Spieler darauf achten, ihren aktuellen Punktestand stets im Kopf zu behalten und sich durch passende Wurfkombinationen einen praktikablen Weg zum Finish vorauszurechnen. Je höher und strategisch klüger die Spieler scoren, desto schneller und komfortabler erreichen sie den Finish-Bereich, landen also bei einer Punktzahl, die sie in einer Aufnahme, also mit einem bis maximal drei Darts erzielen kön-nen (vom leichteren Ein-Dart- über das mittlere Zwei-Dart- bis hin zum schwierigen Drei-Dart- beziehungsweise High-Finish). Wer zuerst 501 Punkte erreicht, indem er oder sie mit dem letzten Dart das passende Doppelfeld im äußeren Reifen der Scheibe oder aber das Bull’s Eye trifft (Double-Out-Modus), hat ein Leg gewonnen. Am schnellsten schafft man das mit drei Aufnahmen, also neun Würfen, einem Nine-Darter, was selbst für Profis eine Besonderheit, für Hobbyspieler hingegen schlicht ein Ding der Unmöglichkeit darstellt.
Das Spiel ist also deutlich komplexer und schwieriger zu meistern, als man zunächst annehmen würde. Tatsächlich ist es enorm schwierig, aus 2,37 Metern Entfernung konstant präzise auf eine Scheibe an der Wand zu zielen. Wer es im Darts zu etwas bringen will, muss viel Talent, Kapazitäten im Kopfrechnen und mentale Stabilität mitbringen – und durch mehrere Trainingsstunden täglich die Hand-Auge-Koordination schulen. Kein Wunder, dass es Spieler unterschiedlichster Niveaus in seinen Bann ziehen kann. Weshalb aber funktioniert Darts auch als Zuschauersport? Wie ist es zu erklären, dass die Aussicht, über Stunden live verfolgen zu können, wie erwachsene Menschen abwechselnd drei Pfeile auf eine kleine Scheibe werfen, mittlerweile massenhaft Fans in die größten Veranstaltungslocations Europas oder zuhause beziehungsweise in der Kneipe vor die Bildschirme lockt? Warum haben mein bester Freund und ich schon vor mehreren Jahren gezielt eine Berliner Eckkneipe aufgesucht, um uns in voller Länge die beiden Halbfinals der Darts-Weltmeisterschaft auf Sport1 anzusehen? Beim professionellen Bogen- oder Luftpistolenschießen, ebenfalls mentale Präzisionssportarten, die, im Gegensatz zu Darts, immerhin zugleich olympische Disziplinen sind, ist ein ähnlicher Hype bis heute jedenfalls nicht zu verzeichnen.
Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Darts ist ein Kneipensport. Ein häufig zitierter Satz wird wahlweise Phil Taylor, dem erfolgreichsten Dartspieler aller Zeiten, oder seinem Mentor Eric Bristow zugeschrieben: »Man kann Darts aus dem Pub herausholen, aber nie den Pub aus dem Darts.«
Dementsprechend groß ist der Pool an Freizeitspielern, die selbst regelmäßig vor dem Board stehen und die Leistung der Profis würdigen können. Dementsprechend eng verwachsen ist der Sport mit der Pub-Kultur des britischen Arbeitermilieus. Der professionalisierte Turnierbetrieb lebt in hohem Maß vom (Selbst)Romantisierungs- und Identifikationspotential dieses Settings. Bei den TV-Events wird deshalb sehr genau darauf geachtet, den Wettkampf in glaubwürdiger Pub-Atmosphäre zu inszenieren. Die Profispieler wiederum müssen habituell bis zu einem gewissen Grad Figuren wie aus der Stammkneipe sein, wenn ihnen die Herzen der Fans in einer Art potenzierter Kneipenfeieratmosphäre zufliegen sollen. Am besten gelingt das, wenn sie den Mythos vom malochenden (Anti)Helden oder der malochenden (Anti)-Heldin mit biografischen Brüchen mit Leben füllen, der /die auch eine /r »von uns« sein könnte.
Phil Taylor ist ein Paradebeispiel dafür, auch wenn er in seiner unvergleichlichen Karriere konsequent darauf hingearbeitet hat, Darts aus der Kneipenecke heraus auf die große Bühne zu holen. Wie der drei Jahre ältere Eric Bristow war Taylor ein früher Schulabgänger, der in seiner Heimatstadt Stoke-on-Trent, einer englischen Darts-Hochburg auf halber Strecke zwischen Birmingham und Manchester, jahrelang als Dreher in einer Fabrik zur Herstellung von Bettpfosten, Zapfhähnen, Toilettenpapiergriffen, Möbelrollen und Isolatoren für Strommasten gearbeitet hatte, bevor sich sein Leben innerhalb eines Jahrzehnts radikal veränderte – und er zum Star wurde. Über seine Startchancen schrieb er in seiner Autobiografie, die den Titel seines Spitznamens The Power trägt: »Ich wurde am 13. August 1960 in eine Welt der Armut und Not hineingeboren, die man nur durch Humor und die Hilfe guter Nachbarn ertragen konnte.«
Der Gemeinschaftsort der notorisch klammen Arbeiterklasse war in Großbritannien seit jeher der Pub, und dort hing in der Regel auch mindestens ein Board mit Pfeilen zur kostenlosen Nutzung. Wie der Historiker Patrick Chaplin nachgezeichnet hat, förderten die britischen Pub-Betreiber mit Unterstützung der großen Brauereien seit dem frühen 20. Jahrhundert gezielt die Ausbreitung des Darts, um ihre Kundschaft bei Laune zu halten und von der Abwanderung in konkurrierende Freizeiteinrichtungen abzuhalten. In die Pubs der »Staffordshire Potteries« – so die Bezeichnung für die Keramikindustrieregion der sechs zur Stadt Stoke-on-Trent zusammengefassten Gemeinden Burslem, Fenton, Hanley, Longton, Tunstall und Stoke – folgte der junge Phil Taylor seinem Vater Doug bereits in den späten 1960er Jahren und stellte dort sein außergewöhnliches Talent unter Beweis. Doch erst mit Ende zwanzig konnte er daraus Kapital schlagen, nachdem er mehrmals in Eric Bristows Dartkneipe aufgeschlagen war: »weil sie um die Ecke lag«, so Taylor, »und die Preise vernünftig waren«.
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