Das Adjektiv »alttestamentarisch«
Zum Verhältnis von Sprachpolitik und historischer Semantik von Kathrin WittlerZum Verhältnis von Sprachpolitik und historischer Semantik
Im deutschen akademischen und journalistischen Sprachgebrauch ist das Adjektiv »alttestamentarisch« allgegenwärtig. Germanistinnen untersuchen alttestamentarische Motive. Kunsthistoriker beschreiben alttestamentarische Figuren. Musikwissenschaftlerinnen erklären, dass Opern auf alttestamentarischen Sagen beruhen. Religiöser Fanatismus folgt ebenso wie die Militärtaktik des israelischen Staates laut deutschen Medienberichten dem »alttestamentarischen Vergeltungsprinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn«, und Akteure aus Politik und Wirtschaft legen mitunter »alttestamentarische Härte« an den Tag. Noch die entlegensten Themen gewinnen durch das Adjektiv an Drastik. So erklärt beispielsweise Martin Zips in der Süddeutschen Zeitung vom 29./30. Mai 2021, der Maikäfer werde mitunter als eine »geradezu alttestamentarische Bedrohung für den Pflanzenwuchs« angesehen.
Mal explizit, mal implizit wird mit dem Adjektiv auf ein vermeintlich jüdisches, angeblich auf die hebräische Bibel zurückgehendes Verhalten angespielt. In der Nürnberger Zeitung etwa heißt es am 16. Januar 2014 in einem Kommentar zum Organspende-Skandal: »Wären alttestamentarische Rachegedanken nicht mit der christlichen Prägung unserer Zivilgesellschaft unvereinbar, man würde den Betrügern von Herzen wünschen, selbst eines Tages vergeblich auf eine Organspende zu warten.« Für Theologen ist dieser Gebrauch des Adjektivs ein rotes Tuch. Wie sie nicht müde werden zu betonen, gilt nur das Adjektiv »alttestamentlich« als fachsprachlich korrekt.
Wer etwas auf seine (theologische) Bildung hält, weiß das – und lässt es auch andere wissen. So berichtet Andreas Rosenfelder in der Welt vom 9. Mai 2010, wie er Tilman Jens »unschuldig auf alttestamentarische Motive« in seinem Buch Vatermord angesprochen habe. Tilman Jens sei hochgefahren und habe den »beschwörenden Tonfall« seines Vaters Walter Jens imitiert, der ihn bei genau dieser Formulierung immer gemaßregelt habe: »Wie kannst du! Es heißt alttestamentlich, nicht alttestamentarisch!« Was genau aber ist dabei das Problem? Woher die Empörung?
Die beiden Adjektive unterscheiden sich nicht nur ihrer Endung nach, sondern in ihrem Bedeutungsumfang. Während die fachterminologische Vokabel »alttestamentlich« dem Duden zufolge etwas bezeichnet, was das Alte Testament »betrifft« oder auf ihm »beruht«, wird »alttestamentarisch« darüber hinaus in der Bedeutung »nach Art des Alten Testaments« verwendet. Tatsächlich tritt »alttestamentarisch« häufig in Ausdrücken des Näherungsweisen und Vergleichenden auf. Allerlei Dinge erscheinen »geradezu alttestamentarisch« oder nehmen »fast alttestamentarische Ausmaße« an. Anders als das Adjektiv »alttestamentlich« bezieht sich »alttestamentarisch« selten auf den konkreten Textbestand oder einzelne Passagen des Alten Testaments, sondern zumeist auf ein vages Wissen über das Alte Testament, das über mannigfaltige Kanäle, Transformationen und mediale Aneignungen vermittelt ist. Unfreundlicher formuliert bezieht man sich mit »alttestamentarisch« auf ein Buch, das man nur vom Hörensagen kennt.
Darin liegt die Brisanz. Denn in dieser Gebrauchsfunktion ist das Adjektiv »alttestamentarisch« zu einem Hort von Klischees über das Alte Testament und, eng damit verbunden, über Juden geworden. Wie bereits die zitierten Beispiele ahnen lassen, wird »alttestamentarisch« nicht wertneutral gebraucht. Korpuslinguistische Analysen zeigen: Das Adjektiv ist mit Vorstellungen von Strenge, Strafe, Zwang, Rache, Vergeltung, Gewalt, Gesetz, Vernichtung und Unerbittlichkeit konnotiert. Mit seinem Gebrauch geht man aufs Ganze, Große und Drastische. Konstitutiv dafür ist das Ausblenden des alttestamentlichen Texts selbst: Dass es das sprichwörtliche »alttestamentarische Vergeltungsprinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn« weder im Alten Testament noch in der jüdischen Tradition gibt, tut seiner effektvollen Evokation keinen Abbruch.
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