Heft 858, November 2020

Das Dilemma der Europäischen Zentralbank

von Paul Tucker

Zentralbanken kontrollieren weder langfristiges Produktivitätswachstum noch den demografischen Wandel, noch die Verteilung des Wohlstands, noch Arbeitsmarktstrukturen, und vieles andere kontrollieren sie ebenso wenig. Und doch sind, irgendwie, die Zentralbanken der Vereinigten Staaten und die Zentralbanken im Euro-Raum zu Protagonisten der Wirtschaft geworden und leisten so das, was frühere Generationen von den Regierungen erwartet hätten.

Vor wenigen Monaten erst dachte man, das würde sich ändern, da den Zentralbanken, wie man annahm, mehr oder weniger die Munition ausgegangen sei. Was Standardmaßnahmen angeht, traf das im Grunde auch zu. Machtlos jedoch waren sie nie, da sie Liquidität schaffen können, indem sie mit dem von ihnen ausgegebenen Geld kaufen, leihen oder auch staatliche Subventionen finanzieren können. Für die Kenner war die Frage nur, wie weit sie dabei gehen würden, worauf die Antwort nun lauten muss: ziemlich weit.

Wie ich in Unelected Power geschrieben habe, sind die Zentralbanken derart stark, dass wir uns fragen müssen, ob sie nicht zu »über-mächtigen Bürgern« geworden sind. Die Frage wird in Europa heftig diskutiert, nicht zuletzt vor Gericht. Vor der Auseinandersetzung mit dieser Frage gilt es allerdings einzuräumen, dass es leicht ist, Steine auf die ungewählten Zentralbanker zu werfen, während wir doch auch von der Passivität unserer gewählten Vertreter frustriert sein sollten. Der entscheidende Punkt ist, ob wir wollen, dass das Handeln der Regierung weiterhin den Werten entspricht, die doch vermeintlich das Fundament unserer Verfassungsstruktur bilden.

Das beste und prinzipiellste Argument für eine unabhängige Währungsbehörde ist nicht einfach, dass sie bessere Ergebnisse produziert, indem sie das Versprechen des Staats zur Einhaltung der Preisstabilität hält, so entscheidend wichtig das ist. Nein, das beste Argument wurzelt in einem der fundamentalsten Werte der Verfassungsdemokratie: der Gewaltenteilung, die unter anderem vorsieht, dass Steuern von den gewählten Parlamenten, nicht von der Exekutive festgesetzt werden müssen. Das betrifft die Zentralbanken, da die monetären Werkzeuge implizit ein Instrument der Besteuerung sind: ein überraschender Inflations- (oder Deflations-) Schub bedeutet Umverteilung der Ressourcen zwischen Schuldnern und Gläubigern und verändert die reale Last öffentlicher Schulden.

Darum ist die Exekutive der allerletzte Bereich der Regierung, der die Geldpolitik in der Hand haben sollte, denn mit ihrer Hilfe könnte sie das Parlament umgehen. In früheren Zeiten war die Lösung der Goldstandard, der vom Gesetzgeber festgelegt war. Mit der Entwicklung der liberalen Staaten zu Demokratien mit vollem Wahlrecht in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts waren die Völker nicht mehr bereit, die massiven Schwankungen der ökonomischen Aktivität und auch des Arbeitsplatzangebots hinzunehmen, die Folge des Goldstandards waren. Die moderne Lösung bestand in der unabhängigen Zentralbank, die von der Tagespolitik isoliert, aber auch, was lebenswichtig ist, durch ein klares rechtliches Mandat auf Geldpolitik, ihre Funktion als Kreditgeber letzter Instanz und regulative Bestimmungsgewalt über das Bankensystem beschränkt war. So ausgestattet, findet eine moderne Autorität der Geldpolitik ihren Platz in der Verfassungsordnung.

Diese Beschränkungen sind lebenswichtig. Ohne sie lebten wir in einer Welt, in der unsere demokratischen Vertreter ihre Kräfte und Verantwortlichkeiten missbrauchen können, es wäre nur noch dem Namen nach eine Demokratie. Zentralbanken sind dieser Konzeption nach also dazu ermächtigt, die Stabilität des Geldsystems zu bewahren – es geht dabei um Preisstabilität genauso wie um die Stabilität des Bankensystems, dessen Verbindlichkeiten aus Einlagen den größten Teil des Geldes ausmachen, das in Gebrauch ist.

Es gibt aber auch eine entgegengesetzte Pflicht, wenngleich sie nicht in Gesetze gefasst ist: eine Pflicht der politischen Moral. Sie besteht darin, sich aus Bereichen, vor allem der Politik und der Gesellschaft, herauszuhalten, die nicht wesentlich für die Kernaufgabe der Zentralbank sind, also die Stabilisierung des Geldsystems. Das nicht etwa deshalb, weil unsere Zentralbankdirektorinnen und -direktoren keine Expertise außerhalb der Geldmysterien hätten – ihre Organisationen wären womöglich in vielen Dingen kompetenter als die Regierung –, sondern weil der Respekt vor den Werten der Demokratie ihr wichtigster Imperativ ist. Und dazu ist die Tugend der Selbstbeschränkung zentral.

Zentralbanken als wohlmeinende Steuerbehörden

Besondere Bindungskraft haben diese Vorschriften für die Bilanz- und die Ordnungspolitik. Beide nämlich lassen sich so einsetzen, dass sie zu, wie die Ökonomen sagen, Pigou-Steuern führen: Steuern, die unser Verhalten lenken sollen, statt einfach nur Geld einzutreiben.