Das große deutsche Beschweigen
Korpsgeist und Elitensolidarität seit dem »Dritten Reich« von Volker BreideckerKorpsgeist und Elitensolidarität seit dem »Dritten Reich«
Im März 2010 wollte das reformpädagogische Landschulheim Odenwaldschule (OSO) den hundertsten Jahrestag seiner Gründung feierlich begehen. In die Vorbereitungen platzten die Enthüllungen eines dort jahrzehntelang vertuschten Systems sexuellen Missbrauchs an Schutzbefohlenen. Die Vorwürfe gegen den langjährigen Schulleiter Gerold Becker und weitere Angehörige des Lehrkörpers waren nicht neu. Zehn Jahre zuvor waren sie in einer ganzseitigen Reportage der Frankfurter Rundschau zu lesen gewesen. Die Veröffentlichung blieb folgenlos, weil kein anderes Medium den Fall aufgreifen wollte. Missbrauch als Tabu geschlossener Anstalten sollte Anathema, der Glanz der Odenwaldschule bewahrt bleiben. Gerold Beckers Lobby stand mit der Autorität prominenter Namen dafür ein.
Es fielen die Namen Hartmut von Hentigs, des Doyens der Reformpädagogik und Lebensgefährten von Gerold Becker, derer von Weizsäcker, von Dohnanyi und weiterer Eltern von Zöglingen aus der Elite des Landes. Und es fiel der Name des Bildungspolitikers Hellmut Becker, der Gerold Becker – beide weder verwandt noch verschwägert – an die OSO geholt, dort zum Schulleiter gemacht und selbst dann noch gedeckt hatte, als ihm der eigene Patensohn die sexuelle Übergriffigkeit des Pädagogen schilderte.
Hellmut Becker (1913–1993) – Sohn des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts (MPI) für Bildungsforschung, Mitbegründer des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Justiziar der Odenwaldschule, der Eliteschulen Birklehof und Salem, des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und des Sigmund-Freud-Instituts für Psychoanalyse – agierte seit der Nachkriegszeit als omnipräsenter Organisator verzweigter kulturpolitischer wie wissenschaftlicher Netzwerke. Als einer der Akteure der »zweiten Gründung« dieser Republik zählte der Freund und Gesprächspartner von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, von Carl Friedrich und Richard von Weizsäcker, von Marion Gräfin Dönhoff und Hartmut von Hentig mit eigenen Worten zu jener »kleine[n] Anzahl von Leuten, die sich alle irgendwoher kannten«,1 um schwierige Probleme notfalls durch einen Anruf beim Minister zu lösen.
Auf dem Stuttgarter Killesberg, im noblen Seniorenstift Augustinum, Tür an Tür mit pensionierten Staatsanwälten, Wirtschaftsbossen und Hochschullehrern, verstarb im März desselben Jahrs 2010 im Alter von 98 Jahren der ranghöchste noch lebende Massenmörder aus Himmlers Reichssicherheitshauptamt (RSHA), SS-Standartenführer Dr. Martin Sandberger. Die NS-Karriere des promovierten Juristen hatte als militanter Studentenfunktionär begonnen, der im Frühjahr 1933 die Hakenkreuzfahne über der Aula der Tübinger Universität gehisst hatte. Die ehrwürdige Kaderschmiede der württembergischen Funktionselite war schon vor 1933 eine Hochburg des Nationalsozialismus und des völkischen Antisemitismus in Deutschland.
Sandberger, Mitglied der Sängerschaft »Alt-Straßburg«, hatte sich 1931 dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund angeschlossen und nach der Machtübernahme in dessen Reichsleitung emporgearbeitet. Reichsstudentenführer Gustav Adolf Scheel war sein persönlicher Mentor, der ihn an der Seite einer auserlesenen Gruppe junger Akademiker für den höheren Sicherheitsdienst (SD) der SS rekrutierte. Aus dieser schwäbischen Seilschaft gingen gleich mehrere Kommandeure von Einsatzgruppen im Osten hervor.
Die Einsatzgruppenleiter agierten in Personalunion als Vordenker, Planer und Organisatoren der »Endlösung der Judenfrage«. Sie waren keine »Schreibtischtäter«, sondern Intellektuelle der Tat: zu allem entschlossene Weltanschauungskrieger aus völkisch-rassistischer Überzeugung, die – wie Sandberger in einem Schulungstext schrieb – der »Überfremdung des deutschen Volkes« den Kampf angesagt hatten. Ihre Einsatzkommandos nahmen beim Vormarsch der Wehrmacht im Osten systematische Massenerschießungen vor. Das von Sandberger befehligte Sonderkommando 1a operierte seit der ersten Stunde des Unternehmens Barbarossa im Rücken der 8. Armee als Teil der Einsatzgruppe A unter dem Tübinger Jus-Kommilitonen Dr. Walter Stahlecker. Aufgrund von Sandbergers Einsatz, zugleich als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (KdS) für Estland, wurde Ende 1941 das erste europäische Land als »judenfrei« nach Berlin gemeldet.
Als Mitverantwortlicher für die Ermordung von 250 000 Juden allein im Baltikum wurde Sandberger in einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse im April 1948 zum Tode verurteilt. Drei Jahre darauf wurde die Strafe in lebenslängliche Festungshaft umgewandelt, und 1958 wurde der damals 46-Jährige begnadigt und freigelassen. Zuvor konnte er im Landsberger Kriegsverbrechergefängnis die als Schulungsleiter im RSHA entwickelte Begabung zur Erwachsenenbildung einbringen. Unter den Häftlingen war eine selbstorganisierte Art Führungsakademie entstanden: Sandberger hielt staatspolitische Vorträge und gab Vorlesungen und Übungen in Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Wenigstens einem prominenten Mithäftling – Himmlers Adjutanten Joachim Peiper – wurde die Teilnahme an Sandbergers Lehrveranstaltungen von der künftigen Universität mit mehreren Semestern angerechnet.
Seine Begnadigung hatte Sandberger einer Kampagne Hellmut Beckers zu verdanken. Die dazu dirigierte Batterie von Politikern, Kirchenmännern und Publizisten hatte Becker bereits im Nürnberger »Wilhelmstraßenprozess« von 1948/49 als Verteidiger Ernst von Weizsäckers in Stellung gebracht: Der vormalige Staatssekretär des Auswärtigen Amts im Rang eines SS-Brigadeführers wurde verurteilt wegen der Gegenzeichnung von Befehlen zur Deportation französischer Juden nach Auschwitz.
Der Legende nach war es der leibliche Sohn, der den Vater verteidigte. Richard von Weizsäcker assistierte freilich nur dem Hauptanwalt Hellmut Becker, der eine breite Kampagne zur Entlastung seines Mandanten entfacht hatte. Unter Einsatz eines Netzwerks finanzstarker Familien aus dem In- und Ausland, evangelischer Kirchenfürsten und prominenter Entlastungszeugen, begleitet von einem medialen Trommelfeuer, bei dem sich die gemeinsame Freundin Gräfin Dönhoff in der Zeit besonders hervortat, zielten die in einem organisierten »Heidelberger Kreis« vereinigten Nürnberger Verteidiger auf die systematische Delegitimierung der alliierten Gerichtsbarkeit durch ihre Denunziation als »politische« Prozesse.
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