Das Pluriversum des Rechts
von Andreas Fischer-LescanoEuropa hat eine koloniale Vergangenheit, die nicht vergangen ist. In den Geistes- und Geschichtswissenschaften werden die Gegenwärtigkeit dieses (Nicht)Vergangenen reflektiert, die Präsenz kolonialer Gewaltmuster in der zeitgenössischen Ordnung analysiert und die historischen Verflechtungen in der Globalgeschichte nachgezeichnet.
Wie so oft hinkt die deutschsprachige Rechtswissenschaft diesen Debatten aber um Jahrzehnte hinterher. Während im englischsprachigen Raum schon seit den 1990er Jahren auf die kolonialen Verstrickungen auch des Rechts hingewiesen wird,1 herrscht in Deutschland, von wenigen Ausnahmen wie beispielsweise Wolfgang Nauckes Untersuchung des Kolonialstrafrechts abgesehen, beredtes Schweigen, das erst allmählich durchbrochen wird. Dabei wird zunehmend deutlich, dass die postkoloniale Herausforderung für das Recht fundamental ist. Unterzieht man die grundlegenden Konzepte, Denkgewohnheiten und Traditionen des europäisch geprägten Rechts einer postkolonialen Revision, bleibt kein Stein auf dem anderen – exempla trahunt.
Herero & Nama ./. Deutschland
Am 6. März 2018 hat der District Court von New York im Fall Rukoro u.a. ./. Deutschland eine Klage der Angehörigen der Bevölkerungsgruppen der Herero und Nama auf Wiedergutmachung und Einbeziehung in die Restitutionsverhandlungen gegen Deutschland als unzulässig abgewiesen.2 Die Klägerinnen und Kläger haben inzwischen Berufung eingelegt.
Der Hintergrund des Falls führt in die deutsche Kolonialgeschichte: Von 1904 bis 1908 lehnten sich die Bevölkerungsgruppen der Herero und Nama in Namibia gegen die deutsche Kolonialmacht auf. Diese antwortete mit äußerster Brutalität. Zehntausende Menschen wurden getötet. Von den ursprünglich 60 000 bis 80 000 Herero überlebten nur etwa 16 000, genaue Opferzahlen sind jedoch umstritten. Auch die Hälfte der rund 20 000 Menschen zählenden Bevölkerungsgruppe der Nama, die im Oktober 1904 ebenfalls aufbegehrten, überlebte die Niederschlagung der Aufstände nicht.
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