Heft 918, November 2025

Das Rattenspiel

Zu Füßen von Hans Egede von Emmanuel Carrère

Zu Füßen von Hans Egede

Nuuk, die Hauptstadt von Grönland, wirkt wie ein kleines Durcheinander aus orangenen Baukastenhäusern und grauen Wohnblöcken, die man auf einem Kieselstrand am Rand des Ozeans abgestellt hat. Kein einziger Baum, dafür ein Hügel, auf dessen Gipfel die Statue von Hans Egede steht – der dänische Missionar, der im 18. Jahrhundert die größte Insel der Welt christianisiert hat – und die deswegen kurz davorsteht, von kolonialismuskritischen Inuit gestürzt zu werden. Zu ihren Füßen warte ich auf die Rückkehr der Hubschrauber, die den grönländischen Premierminister Múte Egede (eine Verwandtschaftsbeziehung zu dem Missionar ist nicht sicher, aber wahrscheinlich), die dänische Premierministerin Mette Frederiksen (Grönland ist ein autonomes Territorium Dänemarks) und unseren Staatspräsidenten Emmanuel Macron (der als Président de la République die gesamte Reise über »PR« genannt wird) von ihrem Ausflug aufs Eis zurückbringen sollen. Ursprünglich hatte ich gehofft, selbst in einen dieser Hubschrauber steigen zu können, und schon geglaubt, das Spiel sei gewonnen, als er in dem Moment, da sich die Delegation in die Erwählten, die ihn in die Luft begleiten sollten, und die anderen teilte, mir vertraulich zuzwinkerte, wie er es oft und oft überraschend gegenüber Leuten tut, die ihm ins Sichtfeld kommen. Also gab ich klein bei: Es gibt zwar viel Platz in einem Flugzeug, aber wenig in einem Hubschrauber, und es handelte sich um ein PR+3-Event, das heißt der PR plus drei weitere Personen, und da bin ich nicht dabei. Als Schriftsteller, der in die französische Delegation beim G7 embedded ist – das heißt beim Gipfel der reichsten und theoretisch demokratischsten Länder, der dieses Jahr in Kanada stattfindet –, beginne ich, ab PR+6 oder +7 eine Chance zu haben, was schon nicht schlecht ist. Von meinem Beobachterposten aus sehe ich eine kleine Menge – die für Grönland groß ist – sich am Hafen um drei Redepulte scharen, an denen bald darauf die drei Staatschefs auftauchen.

Was ist der Kontext? In einer Sturzflut von Dekreten, Ankündigungen, verrückten Versprechungen und durchgedrehten Drohungen – die dem Ausdruck des MAGA-Ideologen Steve Bannon zufolge dazu dienen, »das Feld zu überfluten«, das heißt so zu agieren, dass kein Bürger auf Erden mehr weiß, an welchen psychischen Rettungsring er sich noch klammern soll – hat Donald Trump bei der Rede zu seiner Amtseinführung verlauten lassen, »die USA verstehen sich wieder als ein Land, das sein Territorium erweitern und seine Flagge zu neuen, großartigen Horizonten tragen wird.« (Gleichzeitig soll sich dieses Land aus jedem Engagement im Ausland zurückziehen.) Zu diesen neuen, großartigen Horizonten gehören in vorderster Reihe Kanada, das Trump zufolge prädestiniert ist, zum 51. Bundesstaat der USA zu werden, des Weiteren der Panamakanal und schließlich Grönland. Zu dessen Übernahme, so Trump, bedürfe es »wahrscheinlich keiner militärischen Gewalt«, »doch alle Optionen sind auf dem Tisch«. Kurz nach diesen Ankündigungen kam dem Vizepräsidenten J. D. Vance die Idee, seine zukünftigen grönländischen Kolonien zu inspizieren und in Begleitung seiner Frau Usha einem traditionellen Hundeschlittenrennen beizuwohnen, allerdings sagte man ihm ein so eiskaltes Willkommen voraus (etwas wie ein ganzes Volk, das einem geschlossen den Rücken zukehrt), dass er sich damit begnügte, die ebenso eiskalte Militärbasis zu besichtigen.

Unter diesen Umständen ist es von Seiten Macrons das, was politische Kommunikatoren eine »starke Geste« nennen, auf dem Weg zum G7 ein paar Stunden Zwischenstopp in Nuuk zu machen und zu zwei-, dreihundert Leuten zu sprechen, die gekommen sind, um seiner mal aufrüttelnden, mal verführerischen, gekonnt mit Pausen spielenden Stimme zu lauschen, die die Grönländer noch nicht die Zeit hatten sattzubekommen. In Frankreich ist der Hass auf Macron zu einem Volkssport geworden – den ich persönlich nicht mitspiele –, hier dagegen liebt man ihn. Zehn Tage zuvor wusste man zwar nicht mal unbedingt, wer er ist, aber heute wirkt Nuuk wie eine Hochburg von glühenden Macron-Verehrern. Seine Anwesenheit ist Balsam für die Seele, und der Enthusiasmus erreicht seinen Höhepunkt, als er nach einem schallenden Qujonaq! (»danke« auf Grönländisch) zuerst erklärt, Grönland stehe weder zum Verkauf noch zur Landnahme (ein so heftiger Applaus, als hätte er verkündet: »Ich bin ein Grönländer«), dann, Frankreich werde als Zeichen seiner unerschütterlichen Solidarität ein Konsulat in Nuuk eröffnen (etwas weniger Applaus), und schließlich, sein Hubschrauberausflug mit den beiden PMs habe ihm Gelegenheit gegeben, die Auswirkungen der Klimaerwärmung zu beobachten – denen Grönland, dessen Bewohner allesamt auf dem schmalen Küstenstreifen eines gigantischen, mit alarmierender Geschwindigkeit schmelzenden Gletschers wohnen, besonders ausgesetzt ist. In der Abfolge der kurzen Reden der drei Staatschefs ging es deshalb darum, wer am häufigsten das Wort »Klima« in den Mund nehmen würde – im Fall Macrons fünfmal, doch mir war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, wie provokant diese auf den ersten Blick banalen Erklärungen waren. Nach den Reden fragte eine Journalistin unseren PR, wie weit unsere Solidarität denn gehen würde, wenn Trump Grönland überfiele, und er antwortete mit einem Hauch von Ungeduld, er wolle seine Zeit nicht damit verlieren, über Fragen zu spekulieren, die sich im Moment nicht stellten.

Im Flugzeug

Fast sieben Jahre zuvor, im September 2017, war ich schon einmal im selben Flugzeug mit dem PR gereist, um ein Porträt von ihm für den Guardian zu schreiben. Es war der Beginn seiner ersten Amtszeit, und alles schien ihm zu glücken. Wir flogen nach Saint-Martin, einem Überseeterritorium, das von einem Zyklon heimgesucht worden war, und dann nach Athen, wo er eine große Rede über die europäische Zivilisation hielt. Im Rückblick wirken diese Zeiten fast sorglos, wenn man bedenkt, dass unsere jetzige Reise sich vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, der systematischen Zerstörung von Gaza und der inzwischen unumkehrbaren ökologischen Katastrophe abspielt, wozu sich seit zwei Tagen noch die Schläge Israels gegen den Iran gesellen, die manche als Vorspiel zum Dritten Weltkrieg ansehen – und ich frage mich, ob wir uns in weiteren sieben Jahren nicht nach unseren aktuellen Kalamitäten zurücksehnen werden, so ausweglos wie exponentiell wachsend scheint das Chaos geworden zu sein.

In meinen Notizen von damals habe ich folgende Sätze von Macron gefunden und ihm vorgelegt: »Wenn wir uns nicht in einem tragischen Moment unserer Geschichte befänden, wäre ich nie gewählt worden. Für ruhige Zeiten bin ich nicht geschaffen. Mein Vorgänger (der fidele François Hollande) war es. Ich bin für Stürme gemacht.« »Nun denn«, kommentiert er das Zitat lächelnd, »jetzt ist es so weit.« Was die Innenpolitik betrifft, muss er allerdings zugeben, dass er den Sturm nicht gerade beruhigt hat, als er vor einem Jahr beschloss, die Nationalversammlung aufzulösen – ein in der Geschichte der Fünften Republik nie dagewesener politischer Elektroschock, den er sicher als Rosskur gegen seine Unbeliebtheit betrachtet hat, der das Land aber, wenn nicht völlig unregierbar, dann zumindest noch schwieriger als sonst zu regieren hinterlassen hat, viel schwieriger jedenfalls für ihn selbst. Da der PR der PR ist und wenig zur Selbstkritik neigt, bleibt er der Überzeugung, dass die Geschichte ihm Recht geben werde. Darüber hinaus hat er bei seiner letzten Neujahrsansprache eingeräumt, seine Entscheidung sei nicht richtig verstanden worden und für dieses Missverständnis sei zum Teil auch er verantwortlich – wer sonst noch, sagte er nicht.

Doch welche Schwierigkeiten auch immer es im Inneren gibt, die Außenpolitik bleibt traditionellerweise das Vorrecht des französischen Präsidenten, und man kann sagen, dass Macron auf nationaler Ebene zwar gegrillt werden mag, aber auf internationaler blüht er auf. »Good career move«, ließ angeblich Gore Vidal fallen, als er vom Tod Truman Capotes erfuhr. Genauso entpuppt sich die weltweite Unordnung für Macron als außergewöhnlicher Karrierebeschleuniger – und er weiß, dass es an der Spitze Europas einen Platz zu besetzen gibt. So sieht zumindest er es, und tatsächlich scheint er in Höchstform zu sein. Ich hatte angenommen, dass sich mein zweites Porträt gewaltig vom ersten unterscheiden würde – der Fall des Römischen Reichs nach seinem Aufstieg –, zumal mir manche ihn als inzwischen düster, verquält und von allen verlassen beschrieben hatten, mit blutig zerkauten Nägeln in den Gängen des Präsidentenpalasts herumirrend, in dem über nichts mehr entschieden wird.