Heft 867, August 2021

Das Traumzimmer

von Stephan Wackwitz

Das erste Buch, in dem ich mich selbst beschrieben fand, hatte in Wirklichkeit mich gefunden. Ich war fast drei Jahre alt. Meine Mutter und ich lebten bei meiner Tante in Amerika, die ein paar Jahre zuvor aus dem zerstörten Deutschland ausgewandert war. Pierre Bear erschien in der Reihe »Little Golden Books« bei Simon & Schuster in New York, geschrieben von der Kinderbuchautorin Patricia M. (»Patsy«) Scarry und illustriert von ihrem Mann Richard Scarry, einflussreiche Stars der Branche. Die »Little Golden Books« sind Inkunabeln amerikanischer Nachkriegs-Sozialpädagogik der fünfziger Jahre, Bilderfibeln für Kinder, die demokratisch gesinnte Weltbürger werden sollten, frühpädagogische Grundkurse in Staatsbürgerkunde und American pragmatism.

»In a windswept cabin, away up north, lived brave Pierre Bear. He lived all by himself.« Ich glaube mich noch an den stockenden, manchmal nach dem richtigen deutschen Ausdruck suchenden Erzählduktus zu erinnern, mit dem Mutter und Tante mir den englischen Text während des Vorlesens ins Deutsche übersetzten. »This Little Golden Book belongs to« ist in eine weiße Buchsilhouette auf der Innenseite des Umschlagkartons vorgedruckt. Meine Mutter hat in ihrer girlandenhaften Handschrift ergänzt: »Stephan von Mutti aus Chicago November 1954«. Wahrscheinlich hatte sie mir Pierre Bear von einer ihrer Geschäftsreisen in die großen amerikanischen Städte mitgebracht, wo sie sich bei Werbeagenturen und fashion magazines erfolglos um Jobs in ihrem – bereits aussterbenden – Beruf als Modezeichnerin bewarb.

Ich frage mich, ob meine Ideale vom richtigen Leben jemals die windumtoste Blockhütte im hohen Norden verlassen haben, wo seit 1954 Pierre Bear lebt, ganz allein. Der Kinderbuchbär hat einen großen, aus Feldsteinen gemauerten Kamin, vor dem er im ersten Bild ein Buch liest, seine Tonpfeife rauchend. Noch fast siebzig Jahre später empfinde ich seine Einrichtung und sein Leben als so perfekt, wie ich es als Dreijähriger empfunden haben muss. Pierre hat Jeans mit roten Hosenträgern, eine grünwollene Jacke aus schwerem Flanell im großkarierten Holzfällermuster der fünfziger Jahre, eine rote Pudelmütze, einen beneidenswert stilvollen rosa Morgenrock mit Ahornblattmuster und dunkelgrünen Aufschlägen. In seiner Hütte gibt es Kastenfenster, in deren Sprossenecken sich der Schnee poetisch sammelt, hölzerne Fußbodendielen, zyklopische Deckenbalken, silberne Kerzenhalter, große Bodenvasen mit Meissener Zwiebelmuster.

Pierre Bear schläft auf dem Boden unter einem anheimelnden Berg von Fellen, während vor dem großen Fenster der Polarstern über einer verschneit schweigenden nördlichen Ebene leuchtet. »Viele der Little Golden Books befassen sich mit der unmittelbaren Umgebung des Kindes und geben ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit. Andere machen es mit dem Leben der Menschen in seiner Nähe bekannt und erweitern sein Gefühl für die Welt«, steht als literaturpädagogisches mission statement auf der Rückseite. Die Moral, die Patsy und Richard Scarry mit Pierre Bear – wissenschaftlich abgesegnet durch Margaret Mead und John Dewey – ihren jungen Leserinnen und Lesern nahebringen wollten, besteht darin, dass man in der Einsamkeit nur ein halber Mensch ist. Die Geschichte von Pierre Bear ist ein Familienroman. Patsy und Richard Scarry idealisieren den Weg vom narzisstischen Ich zum familiären Wir.

Pierre Bear verlässt seine Hütte, um seine Felle in der entfernten Handelsniederlassung für Trapper zu verkaufen. In der Wirklichkeit, auf dem Markt der gesellschaftlichen Zwecke und Banalitäten, stößt ihm zu, was für den dreijährigen Betrachter des neuen Bilderbuchs dann gleich das entscheidende Ärgernis war: Pierre kommt als verheirateter Bär in seine Blockhütte zurück. Für mich, das weiß ich noch genau, war die Geschichte mit dieser Wendung der Dinge schon ruiniert, kaum dass sie ihre erzählerische Pointe erreicht. Es fing damit an, dass mir »the pleasant lady bear«, die jetzt in das Leben meiner Identifikationsfigur eingedrungen war, überhaupt nicht gefiel.

Sie ist von Richard Scarry im female American frontier style aufgefasst: ein weites, bettjäckchenartig kurzes rosa Bustier, bodenlange dunkelblaue Petticoats, eine weiße Schürze. Eine großmutterhaft weiße Haube mit violettem Band saß auf dem Bärinnenkopf. Und sie strickte Wollstrümpfe vor dem Kamin, während Pierre Bear, statt wie zuvor heldenhaft Elche zu jagen oder in Ruhe sein Buch zu lesen, ihr jetzt zur Gitarre vorsingen musste. Sein Hüttenleben würde nie mehr dasselbe sein, und wenn ich mir nach dem allabendlichen Vorlesen mein Lieblingsbuch während des Einschlafens noch einmal durch den Kopf gehen ließ, kürzte ich die Bärengattin – mitsamt dem ein paar Seiten später unvermeidlich auf der Bildfläche erscheinenden »little baby bear« – aus meiner inneren Version von Pierre Bear sorgfältig heraus. Dann schlief ich in meinem amerikanischen Kinderbett ein, in so ungestörter Unversehrtheit, Störungsfreiheit und Grandiosität wie mein Held zu Beginn des Buchs unter dem weiten, kalten Himmel der Polarnacht.

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