Heft 879, August 2022

Das Zuhause

von Emanuele Coccia

Umzüge

Sie standen überall herum und hatten das Wohnzimmer in ein Labyrinth aus Pappe, Klebeband und Qualen verwandelt. Ich habe Umzugskartons immer schon gehasst. Allein schon ihre Farbe treibt einem jede Freude aus. Ich bückte mich, um den ersten anzuheben, als unvermittelt eine Welle aus verworrenen Erinnerungen über mich hinwegschwappte. Wie oft hatte ich genau das schon getan? Ich hielt einen Moment inne und versuchte, mich an die Anzahl der Umzüge zu erinnern, die ich bereits hinter mir hatte. Ich kam auf dreißig.

Ich konnte einfach nicht weitermachen. Es war Juli, ich lebte seit drei Jahren in Paris und hatte kaum zwei Tage Zeit für den Umzug. 48 Stunden, um achtzig Umzugskartons zu kaufen, mein aus Kleidung, Geschirr, Büchern, Fotos und Erinnerungen bestehendes Leben darin zu verpacken, einen Transporter zu mieten, ihn zu beladen, an der neuen Wohnung wieder zu entladen und mein Leben an diesem mir nahezu unbekannten Ort wieder aufzunehmen. Ich wollte mit meiner damaligen Partnerin zusammenziehen, mit der ich eine Tochter erwartete. Wir lebten übergangsweise in einer Wohnung im Süden der Stadt, die einem nach Berkeley gezogenen Freund gehörte. Von dort aus wollten wir in aller Ruhe nach »unserem Zuhause« suchen, einem Ort, an dem alles – von den Wänden über die Möbel und Einrichtungsgegenstände bis hin zu den Empfindungen – unseren gemeinsamen Vorstellungen entsprach. Umzüge sind das profane, alltägliche Pendant zum Jüngsten Gericht, in dem die Verdammten von den Auserwählten getrennt werden und eine Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen wird, die zugleich die Grenze zwischen Schmerz und Glück ist. Umzüge sind Übergangs- und Verwandlungsrituale.

Wir wohnten vier Monate in diesem Übergangsdomizil und fanden erst einige Wochen vor dem Umzug eine Wohnung in den östlichen Vororten von Paris. Dort lebten Künstler, Designer und junge Paare. Die Räume hier waren größer und die Parks grüner, weshalb man nicht das Gefühl hatte, im Einzugsgebiet der Hauptstadt, sondern bereits in einem Dorf in der Provinz zu wohnen.

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