Dede Issues
von Ozan Zakariya KeskinkılıçGestern Nacht habe ich von Dede geträumt. Er ist aus seinem Grab wiederauferstanden, er hat sich die feuchte Erde vom Sakko abgeklopft und kämmte sich blassschuppige Würmer und Larven aus den grauen Haaren. Ich stand in einem Nebel aus tütsü, aus Weihrauch, zart und würzig. Die Hände hielt ich noch immer zum Gebet.
Was starrst du mich so an, eşek sıpası?, hat Dede gefragt. Küss meine Hand. Er streckte sie mir entgegen, ich legte die Lippen auf seinen Handrücken, ein wenig Sand verfing sich in meinem Mund. Ich hob Dedes Finger an meine Stirn. Hoşgeldin, Dede, sagte ich und brachte ihm ein Glas Wasser. Er muss sicher durstig gewesen sein, nach so vielen Jahren unter der Erde. So viel Regen war in der Zwischenzeit auf mein Kopfhaar getropft.
Ich habe ein Geschenk für dich, sagte er.
Ein Geschenk? Wofür, was ist es?
Dede schwieg und starrte mir lange ins Gesicht und ich in seines. Buschige Augenbrauen, tiefe Falten in der Haut. Der Mund eine schmale, feine Linie. Kräftige Wangenknochen und schwarze, bademförmige Augen. Er sah aus, als hätte er seinen Friseursalon nie verlassen. Immer trug er maßgeschneiderte Anzüge, Hemd und Krawatte. In der linken Hand ein Kamm, in der rechten eine Schere. Dede war Friseur. Er schnitt alten Männern die Sorgen aus dem Bart und mir die Angst, die aus der Kopfhaut wuchs wie Trauerweiden.
Dede, die Haare wachsen mir bis nach Adana.
Dede nickte, er begann, seine Hände wellengleich in der trockenen Sommerluft zu bewegen wie einen Fächer, der mir eine sanfte Brise ins Gesicht wehte. Er setzte sich unter einen Granatapfelbaum und sang El Bent El Shalabeya. Es war Nenes Lieblingslied, auch sie ist wunderschön, ihre Augen sind mandelförmig, ’uyunha lawziyyah, und er liebte sie. Er sang, ich liebe dich von ganzem Herzen, bahibbik min ‘albi. Er sang, ya ‘albi enti ’aynayya, du bist mein Augenlicht.
Und weil Nenes Baba aus Beirut kam, sang er, min qalbi salamun li beirut, er küsste das Meer und die Häuser, wa qubalun lil-bahr wa-l-buyut.
Ich hatte seine Stimme vermisst.
Dede, ich habe deine Stimme vermisst.
Ich wünschte, ich könnte mitsingen und die Zeilen verstehen.
Dede, ich wünschte, ich könnte mitsingen und die Zeilen verstehen.
Yabni, ich weiß, sagte er. Er richtete sich auf, pflückte einen Granatapfel vom Ast und begann ihn zu schälen. Dein ganzes Gejammer dreitausend Kilometer entfernt lässt mich nicht ruhen unter der Erde.
Das hatte ich nicht erwartet. Enşölligensi, antwortete ich und wurde rot wie die saftige Frucht, die er sich in den Mund warf.
Deshalb bin ich gekommen, sagte er, um dir etwas zu geben, damit du mich endlich, endlich schlafen lässt.
Dede griff in die Hosentasche und zog seine Schere heraus. Er wollte damals mit ihr begraben werden. Ich dachte, jetzt würde ich das gute Stück bekommen, damit ich mir die Haare schneiden könnte, so wie er es früher getan hatte, damit ich keine Angst mehr verspürte.
Astaghfirullah, sagte ich. Für die Schere hättest du doch nicht extra auferstehen müssen.
Dede grinste mich an, er schüttelte den Kopf und streckte die Zunge heraus. Kaum hatte ich nach der Schere gegriffen, schnitt er sich im nächsten Moment schon die Zunge ab, er legte sie auf meine Handfläche und sich zurück in das Erdloch, aus dem er gesprungen war.
Ich wachte schreiend auf, mit dem Geschmack von Blut im Mund.
Zunge heißt auf Türkisch dil, es ist das gleiche Wort wie für Sprache. Das ist mir erst spät bewusst geworden. In der Schule staunten alle, als Frau Meier das Wort Muttersprache übersetzte in mother tongue, in langue maternelle, in lengua materna. Wie poetisch, sagte Max. Malerisch, sagte Lea. Irgendwie blumig, sagte Tim. Im Türkischen sagen wir auch Mutterzunge, habe ich durch das muffige Klassenzimmer gerufen und war wütend. Das Türkische fand niemand poetisch, malerisch und blumig. Max konnte sagen, siktir lan, wenn sich jemand verpissen sollte. Lea nannte Cemile immer Börek und Lahmacun und Döner, wenn sie sie ärgern wollte. Und Tim brüllte auf dem Spielfeld nach dem Ball, hadi oğlum, hadi.
Aber ana dili, Mutterzunge, konnte niemand sagen.
Lea konnte sagen, Arthur est un perroquet. Et boum, c’est le choc. Tim konnte sagen, excuse me, how can I get to the post office? Max konnte sagen, una cerveza, por favor, aber bei Ali Usta konnte er den Ayran nicht auf Türkisch bestellen. Lea lernte im Sommer das erste Mal eine Französin kennen, eine Austauschschülerin aus Paris, sie hat sie nie Baguette, Fromage oder Crêpe genannt. Den Film Le fabuleux destin d’Amélie Poulain konnte sie von der ersten bis zur letzten Sekunde auswendig. Sie hat sogar Klavier gelernt, nur um die Filmmusik von Yann Tiersen nachzuspielen. Aber Yüksel Özkasap, die Nachtigall von Köln, kannte sie nicht. Das Lied Almanya’ya Mecbur Ettin konnte sie nicht auswendig. Yoksulluk beni beni konnte sie nicht sagen, fakirlik beni beni verstand sie nicht. Tim konnte Shakespeares Macbeth zitieren, fair is foul, and foul is fair. Aber Aras Ören hat er nie gelesen, dabei hat Ali Usta dessen Gedichtverse aus der Naunynstraße im Imbiss-Laden sogar an die Wand geschrieben. Der Thymianduft hat hier schon einige Schnurrbärte aufgewirbelt.
Baba sagt immer, bir lisan, bir insan. İki lisan, iki insan. Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen. Das bedeutet, je mehr Sprachen du sprichst, desto größer ist deine Welt, desto mehr bist du.
Aber nicht alle Menschen sind gleich, auch wenn sie es immer behaupten. Und nicht jeder altert mit der Sprache auf dieselbe Weise.
Im Türkischen fühle ich mich wie ein zwölfjähriges Kind, im Türkischen werde ich einfach nicht älter. Ich kann sagen, dersini ihmal etme, weil Baba das sagte, wenn er wollte, dass ich mich in der Schule anstrenge. Ich kann sagen, ellerinden öperim, wenn ich mit Nene telefoniere und Handküsse durch die Leitungen schicke. Ich kann sagen, ayağına çorap giy, üşütürsün, weil Anne das sagte, wenn ich barfuß meine Judo-Übungen auf dem Küchenflur machte und sie wollte, dass ich mir Socken anziehe, um mich nicht zu erkälten, Kesa-gatame, Ō-goshi.
Eine Zunge macht Salto. Zwei Zungen springen Seil.
Auf Französisch kann ich sagen, ne pourrait-on pas considérer que l’imagination et un altruisme exacerbé sont véritablement des antidotes à la solitude? Auf Französisch bin ich ein arroganter Pariser Philosophieprofessor auf Arte und ziehe an der Pfeife. Auf Englisch bin ich ein linker Demonstrant am Berkeley Campus, ich sitze neben anderen Literaturstudentinnen, Politikstudenten, Soziologiestudentinnen in der Mensa und sage, 9/11 was a turning point that not only reshaped global security paradigms but also fueled Islamophobia, intensifying discrimination against Muslims on a global scale.
Auf Türkisch bin ich zwölf Jahre alt und verstehe den Nachrichtensprecher nicht, dessen Stimme bis in mein Kinderzimmer hallt und die Bettdecke zittern macht. Er sagt çin, er sagt uygurlar, er sagt baskı. Fünf Minuten später öffnet Baba die Tür, ein Fernsehteam in verschwitzten T-Shirts und dunklen Sonnenbrillen links und rechts von seinen Schultern, die Kamera auf mein ängstliches Kindergesicht gerichtet. Oğlum, sagt er. Du musst Chinesisch lernen. Du musst die Sprache der Mächtigen kennen, wie willst du sonst die Welt verändern?
Am nächsten Tag schrieb Baba mich in einen Sprachkurs in der Volkshochschule ein. Die Ziffern an der Fernbedienung konnte ich jetzt auf Mandarin zählen, wenn er mich aufforderte, den Kanal zu wechseln, während er Sonnenblumenkerne mit den Vorderzähnen auseinanderbrach. Ich zählte:
一 (yī)
二 (èr)
三 (sān)
四 (sì)
五 (wǔ)
六 (liù)
七 (qī)
八 (bā)