Demokratie verstehen
von Shany MorIn den letzten Jahren hat uns ein Buch nach dem anderen auf die Krise der Demokratie aufmerksam zu machen versucht – als ob wir die beim Verfolgen der Nachrichten und der panischen Medien nicht längst selbst bemerkt hätten. Hat es mit Trump oder mit dem Brexit angefangen? In Europa oder den USA? Die Diagnosen variieren nach Hintergrund und politischer Überzeugung des jeweiligen Autors, ebenso wie die Ratschläge, die er oder sie dann erteilt. Die Bücher kommen nicht einmal darin überein, dass der Verlust der Demokratie eine so bedauerliche Sache sei – unter den kürzlich erschienenen ist mindestens eines, das behauptet, die eigentliche Krise bestehe in einem Zuviel an Demokratie.
Abgesehen von ihrem gemeinsamen Thema findet sich in allen diesen Büchern eine Verunsicherung darüber, was Demokratie eigentlich ist. Es herrscht Unklarheit über die Unterschiede zwischen komplementären Funktionen der Demokratie wie Gesetzgebung oder Wahlen. Das ist auf ganz eigene Weise aufschlussreich, denn dieses in den Büchern verbreitete Defizit lässt einen allgemeineren Verfall des Demokratieverständnisses vermuten, der dazu beigetragen hat, genau die Krise zu erzeugen, zu deren Bewältigung sie geschrieben wurden.
Der wahrscheinlich beste und sicherlich meistdiskutierte Beitrag zu diesem »Krisenkatalog« ist Yascha Mounks The People vs. Democracy. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lehrte Mounk in Harvard, und die zeitliche Punktlandung seines Bandes hat ihn in die Riege der Promiwissenschaftler katapultiert. Für Harvard University Press kam das anscheinend keineswegs überraschend; der Verlag brachte das Buch mit nicht weniger als vier überschwänglichen Blurbs von bekannten Intellektuellen heraus, nämlich Dani Rodrik, der seinen Bachelor in Harvard gemacht hatte, Francis Fukuyama, der in Harvard promoviert hat, Anne-Marie Slaughter, Harvard Doctor of Law, sowie Michael Sandel, zurzeit Professor in Harvard.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil beschreibt die »Krise der liberalen Demokratie«, der zweite versucht, den Ursachen dieser Krise auf den Grund zu gehen, und der dritte schlägt eine Reihe von Gegenmaßnahmen vor, die im Vergleich mit dem Ausmaß der in Teil eins dargestellten Krise bemerkenswert moderat daherkommen. Obwohl Mounk es entschieden bestreitet, ist sein Buch deutlich von einer gewissen Nostalgie für den Wertekonsens der Nachkriegszeit geprägt: für eine starke, aber eingeschränkt liberale Toleranz, einen Wohlfahrtsstaat, der sich auf eine breite gesellschaftliche Solidarität verlassen kann, und für eine Ehrfurcht vor den kulturellen und politischen Eliten, die von einem Großteil der Medien geteilt wurde, von denen sich manche direkt in öffentlicher Hand befanden – fast alle anderen hätten das öffentliche Wohl aber genauso vor Augen gehabt.
Der originellste und überzeugendste Gedankengang findet sich im ersten Teil des Buches, und er erregte auch die größte Aufmerksamkeit. Mounk macht zwei langfristige Trends in der demokratischen Praxis aus, die sich beide auf ein und denselben theoretischen Ausgangspunkt zurückführen lassen, nämlich auf die Entkopplung des Liberalismus von der Demokratie. Da ist zum einen der vielbeschworene Aufstieg der »illiberalen Demokratie«. Das Schöne an diesem Begriff ist, dass er sowohl von Politologen als auch in der Alltagssprache verwendet und von quasi allen verstanden wird. Noch besser, er ist weitgehend werturteilsfrei. Leute wie Mounk, die sich sehr besorgt über die illiberale Demokratie zeigen, benutzen ihn genauso wie der ungarische Premierminister Viktor Orbán, der ihn verwendet, um die Werbetrommel für seine eigene politische Vision zu rühren.
Der zweite Trend, dem Mounk seine Aufmerksamkeit widmet, verhält sich spiegelbildlich zur illiberalen Demokratie. »Undemokratischer Liberalismus« ist nicht nur der weniger einprägsame Begriff, sondern er lässt sich auch nicht so offensichtlich mit den beiden traumatischen Wahlen von 2016 in den USA und in Großbritannien in Verbindung bringen oder mit der modischen Sorge um den wachsenden Populismus, wie auch immer man diesen Begriff genau versteht.
Der Titel des Buches und sein noch dramatischerer Selbsthilfe-Untertitel Why Our Freedom Is in Danger and How to Save It beziehen sich nur auf eine der beiden Entwicklungen. In der Ära von Trump und Corbyn ist das zweifellos gutes Marketing, aber es wird weder dem Buch noch dem Wissenschaftler gerecht, die weitaus anspruchsvoller sind, als es das Cover vermuten lässt.
Wenn Mounk heute auf die Lage der entwickelten Demokratien blickt, sieht er eine steigende Tendenz zur illiberalen Demokratie sowie eine Tendenz zum undemokratischen Liberalismus – und er sieht, was ihn vielleicht am meisten beunruhigt, wie sich beide Trends ausbreiten und gegenseitig verstärken. Dies ist Mounks wichtigste Einsicht und sein wesentlicher Beitrag zur Debatte über die heutige Demokratie.
Doch gelegentlich erliegt er der Eleganz seines eigenen Arguments. Unter den Begriff der illiberalen Demokratie subsumiert er Phänomene wie Populismus, Fremdenfeindlichkeit, Majoritarismus und Angriffe auf die Presse. Seine Auflistung von Merkmalen des undemokratischen Liberalismus beginnt sehr überzeugend, er nennt zum Beispiel das richterliche Prüfungsrecht (judicial review) und die globale Zivilgesellschaft. Aber dann driftet er ab in soziologische Beobachtungen über politische Eliten, die zwar schlüssig sind, meist auch zutreffen, aber nicht unbedingt Probleme des »Liberalismus« zu sein scheinen. Schließlich, noch unter der Rubrik des undemokratischen Liberalismus, kommt Mounk auf die Perversionen von Geld und Korruption in der Politik zu sprechen. Auch solche Dinge sind unbestreitbar wichtig und eindeutig »undemokratisch«, aber ich wüsste nicht, was genau daran »liberal« sein sollte.
Es liegt eine gewisse Schönheit in einer akademischen Hypothese, die auf zwei gegenläufigen, gleichzeitig auftretenden Makrotrends basiert, doch nicht alles passt so nahtlos in Mounks Kategorien, wie er es gern hätte, und er scheint manchmal davor zurückzuscheuen, seine Begrifflichkeiten zu überarbeiten, um der Wirklichkeit Rechnung zu tragen. Die Verzerrungen, die Geldströme in der Politik verursachen, sind real, aber das ist nicht wirklich eine Frage von illiberaler Demokratie oder undemokratischem Liberalismus. Eine analytisch solidere Darstellung wäre sicher weniger elegant, aber doch vorzuziehen.
Das Gleiche gilt für die wiederkehrende Doppelpaarmatrix, die im Buch als praktische Visualisierung dienen soll, letztlich aber eher Verwirrung stiftet. Um zu illustrieren, dass Liberalismus und Demokratie begrifflich getrennt werden müssen, könnte eine Matrix mit dem jeweiligen Konzept auf einer separaten Achse hilfreich sein (wenn auch etwas unnötig). Heikel wird die Sache aber dann, wenn in jedes Kästchen der Matrix der Namen eines Landes (oder der Europäischen Union) gesetzt wird.
Dies alles wirkt ohnehin oberflächlich im Vergleich zu dem weitaus vorsichtigeren Argument, das im Verlauf des Buches entwickelt wird. Das Problem der entwickelten Demokratien im frühen 21. Jahrhundert ist schließlich nicht, dass sie sich zu sehr Polen angleichen oder Kanada oder der Schweiz (oder einer oberflächlichen Klischeevorstellung von Polen oder Kanada oder der Schweiz). Das Problem ist doch vielmehr, dass gewisse vermeintlich demokratische Kräfte die Rechtsstaatlichkeit untergraben und gleichzeitig gewisse vermeintlich liberale Kräfte die Volkssouveränität aushöhlen. Dieses Aufeinandertreffen sich wechselseitig verstärkender Phänomene zeigt sich zwar in Warschau auf andere Weise als in Brüssel. Aber der Subtilität des Arguments, und der Falle, die der Status quo für die Demokratie darstellt, wird ein visuelles Hilfsmittel an die Hand gegeben, das nichts mit der eigentlichen These des Buches zu tun hat – oder sogar in Widerspruch mit ihr steht.