Heft 894, November 2023

Demolalie

Krise und Kritik der repräsentativen Demokratie von Christian Neumeier

Krise und Kritik der repräsentativen Demokratie

Die repräsentative Demokratie scheint in eine schwere Krise geraten. Aus welchen Gründen, ist nicht leicht zu sagen. Liegt es an den Repräsentanten, den Repräsentierten oder der Idee der Repräsentation? Der professionalisierten Politik fällt es erkennbar schwer, zu erklären, woraus sich ein Mandat ergeben könnte, das nicht in sozialer Identität mit den Repräsentierten oder dem Vollzug ihrer politischen Präferenzen liegt. Der Bundestag ist kein Abbild der Gesellschaft, weiß aus dieser Differenz aber keinen Vorzug zu machen. Im Schnitt sind seine Abgeordneten älter, wohlhabender, urbaner, männlicher und promovierter als die übrige Bevölkerung und haben seltener eine Migrationsgeschichte. Das schlägt sich, wie neuere Untersuchungen zeigen, auch in seinen politischen Entscheidungen nieder. Je eher man selbst den Abgeordneten gleicht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus den eigenen Ansichten tatsächlich Gesetze, also die Pflichten der anderen, werden.

Aus diesen Befunden ergäbe sich nur dann kein Problem, wenn sich die demografische Differenz von Parlament und Bürgerschaft nicht als Exklusion, sondern als Folge eines fairen Auswahlverfahrens verstehen, und sich zudem plausibel erklären ließe, warum parlamentarische Politik politische Präferenzen der Bürger zwar wahrnehmen sollte, ihnen aber nicht ohne weiteres entsprechen muss. Nur lässt sich entlang der Merkmale von Geschlecht, Vermögen oder Bildungszertifikaten ein solches Argument schwerlich entwickeln. Dass Politik und Zusammensetzung des Bundestages dieselbe soziale Schlagseite haben, nährt den alten Verdacht, dass Repräsentation nur die Ideologie einer politischen Form sein könnte, die hinter demokratischen Idealen soziale Hierarchien perpetuiert, ganz so wie es ihre frühen Verfechter, die amerikanischen Verfassungsväter, einmal erdacht hatten.

Befragt man die Repräsentierten von heute, ergibt sich ein Bild ihrer Unzufriedenheit, das die Sache kaum einfacher macht. Sieht man von Fragen der Migration ab, erkennen sie sich in vielen politischen Überzeugungen ihrer Repräsentanten durchaus wieder, jedenfalls stärker als noch vor dreißig Jahren. Das Vertrauen in sie ist in derselben Zeit gleichwohl durch die Bank weg gesunken. Offenbar hegt man ein notorisch schlechtes Bild von seinen Mitbürgern, nachdem man sie selbst in ein Amt berufen hat, unabhängig davon, wieweit ihre Ansichten tatsächlich von den eigenen abweichen.

Das könnte darauf hindeuten, dass in der fehlenden Responsivität der Parlamente, so bedenklich sie ist, nicht der primäre Grund für die Krise der Repräsentation liegt. Besonders schlecht vertreten fühlen sich häufig jene, die überrepräsentiert sind, nämlich alte, halbgebildete Männer. Gleichzeitig schafft der Populismus die Repräsentation nicht ab, sondern erfindet sie neu. Amerikanische Vielleicht-Milliardäre schlagen aus den Symbolen ihres Reichtums repräsentatives Kapital, indem sie sie mit der Scheingleichheit rhetorischer Anbiederung verbinden. Soziale Differenz schließt gelingende Repräsentation offenbar nicht aus, ebenso wenig wie soziale Ähnlichkeit sie garantiert.

Liegt in der verbreiteten Unzufriedenheit einfach ein stummer Schrei nach mehr demokratischer Partizipation? Wo sie leicht zu haben wäre, in der Kommunalpolitik etwa, die den Alltag stärker beeinflusst als die meisten Bundestagswahlen, ist von einer neuen Lust an der Demokratie wenig zu hören. Wo sich am leichtesten die größten Veränderungen bewirken ließen, käme es einem darauf an, ist zugleich das Desinteresse am stärksten. Noch am ehesten Vertrauen genießen dagegen diejenigen Institutionen, die sozial am allerwenigsten repräsentativ sind, weil sie es gar nicht sein sollen: Gerichte und Zentralbanken.

Abbild, Durchschnitt, Mehrheit

Von einer Krise der repräsentativen Demokratie zu sprechen, kann sehr Unterschiedliches bedeuten, je nachdem, ob man deren politischen Sinn in der Abbildung oder der Reflexion sozialer Verhältnisse erblickt. So bleibt häufig ungeklärt, ob der Kern des Problems in der Differenz zwischen Repräsentanten, Repräsentierten und ihren demoskopisch ermittelten Einstellungen besteht oder darin, dass die traditionelle Vermittlung dieser Differenz durch die Parteien nicht mehr gelingt. In den zahllosen öffentlichen Debattenbeiträgen der vergangenen Jahre zeigt sich eine auffällige Tendenz, gelingende politische Repräsentation unhinterfragt als Spiegelbildlichkeit zu verstehen. Die Logik von Abbild und Durchschnitt unterläuft dabei die der Mehrheit. Dass Regierungen etwa integrationsfreundlicher sind als die Bevölkerung im Durchschnitt, könnte ja auch einfach bedeuten, dass sie eine proeuropäische Mehrheit und nicht die euroskeptische Minderheit repräsentieren.

Besonders populär ist die Idee, Bürgerräte könnten Repräsentativitätsdefizite beheben. Die Auswahl der Repräsentanten durch demografisch informierte Losverfahren soll die soziale Selektivität der Parlamente vermeiden, die für die Schlagseite in der Interessendurchsetzung verantwortlich gemacht wird. Die Philosophin Cristina Lafont hat diesen und ähnliche Vorschläge in einem 2020 erschienenen, noch immer sehr lesenswerten Buch, das einen guten Überblick über die reich differenzierte Diskussion demokratischer Reformoptionen bietet, als »lottocratic shortcut« kritisiert: eine Augenwischerei, die das Ausgangsproblem der Repräsentation nicht löst, sondern reproduziert. Losverfahren, die manches, aber längst nicht alles dem Zufall überlassen wollen, setzen Einigkeit über die relevanten sozialen Kriterien voraus. Bei Alter und Geschlecht mag sie noch zu erzielen sein, jenseits dessen wird es schwierig. Müssen auch Millionäre, Zahnärztinnen und VWL-Professoren angemessen repräsentiert werden? Und wie feingliedrig muss die Lotterie sein? Muss der Bundestag wirklich durchschnittlich rassistisch sein?

Je genauer Losverfahren die soziale Realität abbilden, desto eher gleichen sie einer infinitesimalen Ständeversammlung. Vor allem aber lösen sie das strukturelle Problem nicht, dass die Repräsentierten auch diejenigen Entscheidungen der Repräsentanten als demokratische Selbstbestimmung verstehen müssen, die sie selbst so nicht getroffen hätten. Warum das besser gelingen soll, wenn meine Vertreter mir zugelost statt von mir selbst ausgewählt werden, ist schwer zu erklären. Schätzt man an den Bürgerräten vor allem den authentischen Charme des deliberativen Laienschauspiels, stellt sich ein verwandtes Problem: Auch Bürgerräte müssten die Bürgerinnen und Bürgern von ihren Entscheidungen überzeugen, und zwar über dieselben Mechanismen politischer Öffentlichkeit, an denen offenbar bereits die Parlamente scheitern.

Demokratische Krisenprosa

Das Krisennarrativ produziert derweil seine eigenen Logiken. Die eine ist kommerziell. Die Krise kann gar nicht ernst genug sein, um nicht noch durch ein neues Sachbuch aus ihr Profit zu schlagen. Die andere ist therapeutisch. Keine Krise ohne gut gemeinte Ratschläge. Die Demokra-tie, heißt es beispielsweise, brauche dringend bessere Schulen, mehr Pflichten und einen Stab ökologischer Berater. Sie sei nicht nur auf public intellectuals, sondern auch auf »kompetente und engagierte Bürgerinnen und Bürger« angewiesen.

Zu den ungewöhnlicheren, wenn auch nicht ganz neuen Vorschlägen gehört, Demokratie brauche die Religion, weil der Mensch im »rasenden Stillstand« der modernen Gesellschaft so wenig »Selbstwirksamkeit« erfahre, dass es ohne Fürbitten nicht mehr gut auszuhalten sei. Hatte Marx das noch als Argument gegen die Gesellschaft gewendet, wird es nun flugs zum Argument für die Religion: Sie soll die Menschen »hörende Herzen« lehren. Hatte diese Praxis nicht zumeist eher hörige Herzen hervorgebracht? In der neuen Luther-Übersetzung jedenfalls ist aus dem »cor docile« der Vulgata ein »gehorsames Herz« geworden. Dennoch kann offenbar erst die innere Einstimmung auf eine göttliche Unterweisung, um die Salomo einst für seine Königsherrschaft gebeten hatte, das demokratische Mindset schaffen, um für die irdische Dauerrede der Mitbürger empfänglich zu sein.