Heft 855, August 2020

Denkpause für Globalgeschichte

von Stefanie Gänger, Jürgen Osterhammel

Von Zeit zu Zeit fegen auf beiden Seiten des Atlantiks Stürme der Begeisterung durch die Geschichtswissenschaft. Es ist in solchen Zeiten blamabel, die Leitwerke der »kritischen Sozialgeschichte«, der »historischen Anthropologie«, der »Neuen Kulturgeschichte« – oder was auch immer das jeweils glanzvollste Paradigma sein mag – nicht zu kennen. Charismatische Exponenten vertreten die neueste Richtung mit öffentlicher Wirkung auch jenseits der akademischen Welt.

Kluge und wagemutige, nach einer Weile auch trendopportunistische junge Forscherinnen und Forscher stürzen sich in neue Themen. In den 1990er Jahren wurde global history, bald auch als »Globalgeschichte« in den deutschsprachigen Raum importiert, zum Gegenstand eines solchen großflächigen Enthusiasmus.1 Sobald sie sich von einer amateurhaften »Weltgeschichte« distanziert hatte, die dem Publikum vorgaukelte, über alles und jedes Bescheid zu wissen, wurde Globalgeschichte wissenschaftlich respektabel. Institute, Forschungsschwerpunkte, Zeitschriften und Buchreihen entstanden; man konnte nun Professorin und Professor für die neue Subdisziplin werden, die sich – das war bald der Konsens – zentral mit der Geschichte von Wechselwirkungen, Mobilität und Beziehungen in und zwischen verschiedenen Teilen der Welt befasste.2

Dabei war die Ko-Evolution von sozialwissenschaftlicher Globalisierungstheorie und Globalgeschichte unübersehbar. Die Versuchung war groß, sich selbst als die historische Denkform des Tages in Positur zu setzen: Ein globales Zeitalter brauche eine globale Sicht auf die Vergangenheit. Dieser Satz steht und fällt mit seiner Prämisse: dass unsere Zeit tatsächlich durch nichts besser charakterisiert wird als dadurch, dass man ihr Globalität bescheinigt.

Die Stunde der Globalgeschichte?

Und nun, wo das Adjektiv »global« fest mit den Substantiven »Pandemie«, »Krise« und »Katastrophe« verschweißt ist? Wo zunehmende Integration der Isolation weicht und fortwährende Mobilität dem Stillstand? Was bedeuten die Umstände und Folgen der SARS-CoV-2-Pandemie für die Globalgeschichte? Inwiefern berühren sie auch verwandte Gebiete wie die Verflechtungsgeschichte oder die Transkulturellen Studien?

Zumindest vordergründig bestätigt der »globale Moment« vom März 2020 die Relevanz globalhistorischer und anderer relationaler Ansätze, die sich mit Weltzusammenhängen befassen. Die Geschichte der Epidemien und Pandemien, die immer eine Geschichte der Unterwanderung von Grenzen aller Art war, ist seit Jahrzehnten ein Bestandteil dieser Arbeitsrichtung.3

Für viele Globalhistorikerinnen und -historiker bietet sich in der gegenwärtigen Situation daher ein in den Grundzügen vertrautes Bild: dass sich Krankheiten mit der Bewegung von Menschen im Raum verbreiten und dass dies seit dem Ausbau des internationalen Handels und des globalen Schiffsverkehrs auch weltweit geschieht – man denke an die Cholera-Pandemien des 19. Jahrhunderts oder die Spanische Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs –, ist ein Gemeinplatz der Weltgeschichtsschreibung.4

Quarantänemaßnahmen, Zwangsisolation und andere historische Variationen des social distancing sind seit Jahrhunderten bekannt.5 Auch Debatten über eine Abwägung und »Verrechnung« des epidemiologischen Nutzens eingreifender Seuchenpolitik mit ihren ökonomischen Kosten sind schon früher geführt worden. Die Sorge vor »Ansteckung« durch Fremde, die Stigmatisierung Asiens als Krankheitsherd – als »Wiege der Pest«, der Pocken und der Cholera – sowie die Hoffnung auf Wundermittel durchziehen die Mentalitätsgeschichte der Neuzeit.

Dass Epidemien zum Prüfstein für Regierungen werden, ist zumindest für die Zeit nach 1800 kennzeichnend, als die öffentliche Gesundheit in vielen Ländern zunehmend zur Aufgabe des Staates wurde.6 Die allgemeine, synchrone Verfügbarkeit derselben statistischen Daten und medizinischen Wissensbestände wiederum ist zwar ein Zeichen unserer gegenwärtigen, neuen Welt elektronischer Medien und der Beschleunigung von Kommunikation bis hin zur Echtzeit. Aber das grundsätzliche Bewusstsein von der »Globalität« von Pandemien und die weltweite Verbreitung und Angleichung von medizinischen Diskursen und Praktiken lassen sich zumindest auf die Jahrzehnte um 1800 zurückverfolgen.

Die Möglichkeit einer »Massenpanik« vor einem Krankheitsausbruch, die droht, wenn die Kunde von Epidemien eintrifft, bevor die ersten Opfer auftreten, erlangte bereits mit der Verbreitung der Telegrafie ab etwa 1860 neue Ausmaße. Erstmals konnten nun Informationen schneller reisen als Menschen.7 Auf die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts wiederum gehen einige der kosmopolitischen Diskurse zurück, die derzeit in der Öffentlichkeit vielerorts bemüht werden: über eine »Menschheit«, die mehr ist als eine statistische »Weltbevölkerung«, über ihr geteiltes Schicksal und über die moralische Verpflichtung von Bürgern und Politikern, heutigen und zukünftigen Katastrophen in globalem Zusammenwirken zu begegnen.8

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