Heft 909, Februar 2025

Der Bauer in uns

von Sandra Fluhrer

Wer etwas über den Zustand einer Gesellschaft erfahren will, der schaue auf ihre Äcker. Noch hat diese vergilisch anmutende Losung niemand ausgeben wollen. Und doch liegt die Bestellung der Felder nicht mehr nur im Fokus der Satelliten, die die Gemeinsame Agrarpolitik überwachen. Publikumsverlage interessieren sich schon seit einiger Zeit vermehrt für agrarische Stoffe; die Bauernproteste machten Landwirtschaft zum medialen Tagesthema. Endlich scheint sie auch ins Feld intellektueller und akademischer Diskurse zu drängen. Es ist höchste Zeit.

Kurzer Brief zum stillen Abschied

Ein Lichtzeichen für eine neue intellektuelle Aufmerksamkeit für das Agrarische war der Sachbuchpreis 2023 für das Buch Ein Hof und elf Geschwister.1 Der Tübinger Historiker Ewald Frie, geboren 1962, verwebt darin die eigene jüngere Familiengeschichte und das Aufwachsen mit zehn Geschwistern auf einem Rinderzüchterhof im Münsterland mit Quellen zur Transformation des bundesrepublikanischen Landlebens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Soziologie würde die Familie wohl als dreifach marginalisiert betrachten: bäuerlich, katholisch und auf einem Weiler lebend, also noch nicht einmal im Dorf, was Frie betont. Herzstück des Buchs sind die Elternporträts, die die Sensation der katholischen Bauernfamilie, die elf Kinder auf die Spur bringt, plastisch werden lassen. Auch Alterisierungserfahrungen der Geschwister, wie die Angst, in der Schule nach Stall zu riechen, und den mühsamen Beginn der eigenen Lesebiografie, erst am kargen Bücherschrank der Eltern, dann in der katholischen Leihbibliothek, erzählt Frie mit Verve.

Dabei ist das Buch kein bäuerlicher Eribon. Auch wenn Frie der Schwellenraum zwischen historischer Wissenschaft und eigener Familiengeschichte augenscheinlich reizt, bewegt er sich zu weiten Teilen im gewohnten Feld von Archivmaterialien, führt auch die Gespräche mit den Geschwistern als formalisierte Interviews. Nur ein Bruder wurde Bauer; mehr als die Hälfte der elf Geschwister hat die Landwirtschaft gegen ein Leben im Bildungssystem eingetauscht. Schulbusnetze und Internat, zweite Bildungswege und Bafög schufen Möglichkeitsräume. Eine reformkatholische Mutter, die den eigenen Bildungshunger zwanglos den Kindern antrug, half, sie zu nutzen. »Wir Geschwister können ein ganzes Ausbildungsleben professionell begleiten«, heißt es mit dem schmunzelnd vorgebrachten Stolz, der sich durch das Buch zieht: »Zwei Erzieherinnen mit Schwerpunkt Kindergarten haben wir zu bieten, eine Grundschullehrerin, eine Haupt- und Realschullehrerin, einen Berufsschullehrer und einen Professor. Ein Gymnasiallehrer fehlt. Aus der Perspektive der meisten meiner Geschwister ist es aber ohnehin langweilig, direkt auf das Studium zuzusteuern.«

Das Erstaunliche an Fries Buch ist, wie wenig es von Landwirtschaft handelt. Mit Ausnahme von Details zur jüngeren Geschichte der Rinderzucht und dem Gemeinplatz, dass mit dem Einzug von Traktoren ein Gutteil der »Maloche« entfiel, erfährt der Leser nichts über die agrarischen Transformationen der letzten hundert Jahre. Der Erstgeborene und Hoferbe, von dem Frie achtzehn Jahre trennen, kommt im Buch wenig zu Wort. Wie sich das Ende der bäuerlichen Familiengeschichte für den letzten Bauern der Familie anfühlt, ist ebenso wenig Fries Frage wie die nach der zukünftigen Gestalt des bundesrepublikanischen Landlebens, mit und ohne Landwirtschaft. Das Buch erlangt seinen Reiz aus der Lust des gewesenen Bauernkinds, die eigene Herkunft mit wissenschaftlichen Methoden zu sezieren. Einen Versuch, die Brisanz zu erkunden, die einem solchen »Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn«, eignet, unternimmt es nicht.

Womöglich braucht es dazu Abstand. Als Pierre Bourdieu, Kleinbauernenkel und Briefträgersohn aus dem südfranzösischen Béarn, kurz vor seinem Tod seine zwischen den frühen 1960er und späten 1980er Jahren entstandenen agrarsoziologischen Texte als Sammlung wiederveröffentlicht, fügt er eine Einführung bei, in der er in den Studien über das eigene Herkunftsmilieu eine »objektivistische Zurückhaltung« erkennt, die ihn vor dem »Gefühl« bewahrt habe, »eine Art Verrat zu begehen«.2 Schwer zu sagen, wie sich Bourdieus Bauerntexte ohne Wissen um seine Herkunft lesen würden. Mit der späteren Rahmung ist die subtile Anwesenheit des Autors in den Texten spürbar; immer läuft die Frage nach der Resonanz mit, die von ihr auf den Gegenstand überging und umgekehrt – etwa an dieser Stelle zum holprigen Paarungsverhalten beim Dorfball, der zweifellos eigenes Körperwissen eingeschrieben ist: »Der Befangenheit und der Unbeholfenheit des jungen Mannes entsprechen das alberne Lächeln und die verlegene Haltung der Mädchen. Man verfügt nicht über diese Gesamtheit an gestischen und verbalen Modellen, die den Dialog erleichtern würden: Jemandem die Hand geben, lächeln, scherzen, alles bereitet Probleme.«

»In jedem Zuhause habe ich einen Nachmittag und einen Vormittag verbracht und ein leitfadengestütztes Interview geführt«, schreibt Frie zu seiner Recherche bei den Geschwistern. Der Umgang mit Zeit, der hier anklingt, erklärt sich aus der schieren Zahl der Geschwister und den Zwängen des akademischen Betriebs. Er verrät auch, dass das schmale Buch nicht vom Abschied, sondern nur noch vom Zu-Ende-Sein des bäuerlichen Lebens erzählt. Bäuerliches Erfahrungswissen und bäuerliche Erinnerungskultur, die (vielleicht) Zeit brauchen, sich auszufalten, verrinnen ohne wissenschaftliches oder geschwisterliches Ethos des Nachhakens in Plattitüden: »Das war richtig Knochenarbeit.« »Das war eine Arbeit, die ich gerne gemacht habe, und Arbeit, die du gerne machst, ist nicht hart. Aber Arbeit, die du nicht gerne machst, die kann auch hart werden.« Das Buch ist ein Dokument der Entfremdung von der Welt der Landwirtschaft, nicht ihre Analyse. Fast stellt sich am Ende der Eindruck ein, es gäbe überhaupt keine Bauern mehr.

Lakonie ist eine große Gefühlsmaschine. Bei Frie zeigt sie sich oft schlicht als Kürze, und vielleicht ist diese Sprache das bäuerliche Moment an dem Buch. Eine Lakonie, die wirklich nichts weiter sagen will. Wer ermattet ist vom Herkunftsschmerz der Ernaux und Eribons, findet bei Frie unaufgeregt skizzierte Biografien über Loslösung und Bildungsaufstieg, denen kein politischer Impuls eingeschrieben scheint. Was bleibt, ist ein Bild der Bundesrepublik als erfolgreicher Bildungsrepublik, in der das katholische Bauernkind Professor werden konnte.

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