Der Böckenförde-Midcult
von Jannik OestmannAm 22. August 2024 eröffnete in Potsdam nach Jahren des Wiederaufbaus der Turm der Potsdamer Garnisonkirche. Die Rekonstruktion war im Vorfeld heiß diskutiert worden – galt die Kirche doch als der Ort, wo am 21. März 1933 beim »Tag von Potsdam« der symbolische Handschlag zwischen altem Konservatismus und Hitlers Nationalsozialisten erfolgte.1 Der Träger des neuen Baus macht diese historische Belastung nun zum Ausgangspunkt für das eigene Selbstverständnis. Es soll sich bei dem Potsdamer »Wow-Wahrzeichen« um einen »Erinnerungs-, Kultur- und Diskursort« handeln, »an dem die deutsche Geschichte kritisch reflektiert wird«.2
Diesem Selbstverständnis folgend kann man bei einem Besuch im Turm neben dem Ausblick auf Potsdam nun auch die Ausstellung »Glaube, Macht und Militär« zur wechselhaften Geschichte der Garnisonkirche besichtigen. Das erklärte Ziel der Ausstellung ist es, für die Gefährdungen der Demokratie zu sensibilisieren und zur Gestaltung einer pluralistischen Gesellschaft anzuregen. Gestalterisch geprägt werden die Räume dabei vor allem durch Zitate von wichtigen Figuren der preußischen Geschichte, die Wände und Decken zieren, darunter Alexander von Humboldt, Freiherr vom Stein und Friedrich der Große. Entlassen aus der Ausstellung wird man dann allerdings mit dem Zitat eines jüngeren Autors, das man wohl als programmatisch für das Lernziel der Ausstellung lesen darf: »Der freiheitlich säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist – Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, 1964.«
Es liegt auf der Hand, dass das Ausstellungsziel der Garnisonkirche, für die Verwundbarkeit der Demokratie zu sensibilisieren, auch einen aktuellen Anlass hat. Genau einen Monat nach ihrer Wiedereröffnung wurde am 22. September der neue Potsdamer Landtag gewählt. Während die Sozialdemokraten dabei zwar stärkste Kraft werden konnten, wird die AfD mehr als ein Drittel der Sitze im Brandenburger Parlament besetzen. Für die künftige parlamentarische Arbeit bedeutet das mächtige Blockademöglichkeiten bei Verfassungsänderungen, Neuwahlen sowie der Neubesetzung von Richterposten.
Sichtbar gemacht wurden diese konkreten Gefahren im Vorfeld der ostdeutschen Landtagswahlen vor allem durch das juristische Publikationsforum Verfassungsblog: Ein eigens initiiertes Forschungsprojekt sollte die Obstruktionspotentiale autoritär-populistischer Parteien für die verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik hervorheben, sowie Konzepte zur Erhöhung ihrer Resilienz entwickeln. Die Tragfähigkeit dieser Reformvorschläge, wie etwa der bessere Schutz der Verfassungsgerichtsbarkeit, wird von den Mitgliedern des Projektes allerdings inzwischen selbst infrage gestellt. Sie votieren mittlerweile, zumindest ergänzend, für das Konzept eines »zivilen Verfassungsschutzes«, denn »der Schutz der Verfassung ist nichts, was wir Polizei, Justiz und Geheimdiensten überlassen können. Dafür braucht es eine engagierte Zivilgesellschaft.«3 Und auch hier gibt es einen programmatischen Zeugen: Böckenfördes Satz vom freiheitlich säkularisierten Staat, der seine Voraussetzungen nicht garantieren kann.4
Biografie eines Satzes – Ebrach, 1964
Die intellektuelle Karriere des Böckenförde-Diktums beginnt vor sechzig Jahren und etwa 400 Kilometer entfernt von der Potsdamer Garnisonkirche im oberfränkischen Ebrach. In den dortigen Ferienseminaren, die als Treffpunkt der »Schmitt-Schule« und des erweiterten intellektuellen Konservatismus der frühen Bundesrepublik inzwischen den Status eines »lebenden Mythos« haben,5 präsentierte der gerade erst zum Professor für Öffentliches Recht berufene Böckenförde 1964 erstmals den Beitrag von der »Herausbildung des Staates als Vorgang der Säkularisation«.6 Gedruckt erschien der Text dann wenige Jahre später in einer Festschrift für den Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff.
Böckenförde entwickelt hier eine historische Erzählung, der zufolge der moderne Staat sich im Gefolge der Religionskriege als weltanschaulich neutrale Kraft herausgebildet habe, die der Gesellschaft gegenübertritt und so Frieden und individuelle Freiheit organisiert. Diese Entwicklung werfe allerdings auch das Problem auf, worin der Staat »die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte [findet], derer er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion nicht mehr essentiell ist und sein kann«. Der berühmte »freiheitlich säkularisierte Staat« kann existentielle gesellschaftliche Konflikte schließlich nicht mehr durch die Anwendung von Zwang lösen, »ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben«. Das Diktum bringt damit insgesamt ein liberal-etatistisches Modell auf den Punkt, das Böckenfördes gesamtes akademisches Wirken durchzieht. Die konsequente Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, die zur Aufrechterhaltung ihrer Trennung auf eine »relative Homogenität« der Gesellschaft als »gewisses Maß an gemeinen Grundauffassungen der Bürger über die Art und Ordnung ihres Zusammenlebens sowie die Abwesenheit extremer wirtschaftlich-sozialer Gegensätze« angewiesen bleibt.7
Intellektuellengeschichtlich stellte vor allem die liberale Seite des Diktums, das Bekenntnis zum freiheitlichen Rechtsstaat als »Chance der Freiheit«, einen »Stachel im damals noch zutiefst säkularitäts- und demokratieskeptischen Milieu des bundesdeutschen Katholizismus« der siebziger Jahre dar.8 In der weiteren Rezeption wurde das Diktum dagegen von neokonservativen Autoren der neunziger Jahre als Beleg für die Notwendigkeit der christlichen Religion als Grundlage des Staatswesens in Stellung gebracht. Inzwischen ist das Wuchern der Böckenförde-Zitate in Wissenschaft und Publizistik kaum noch überschaubar: So gilt das Diktum wahlweise als »E = mc² der Staatsrechtslehre«, als Formel für ein demokratisches Ethos oder als »Zentrum des Liberalkonservatismus«.9
Und auch die politische Praxis hat das Diktum inzwischen in ganz unterschiedlichen Varianten für sich in Anspruch genommen: Im Bundestag forderte Beatrix von Storch mit Böckenfördes Satz bereits die Begrenzung der Zuwanderung von Muslimen, da der Islam »in seinen meisten Auslegungen nicht bereit [sei], den liberalen, säkularen Staat anzuerkennen« (in der Debatte vom 9. November 2023); Renate Künast dagegen forderte die Unterstützung der demokratischen Zivilgesellschaft gegen Hasskampagnen (in der Debatte vom 12. März 2020).
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