Heft 850, März 2020

Der Brexit in historischer Perspektive

von Dominik Geppert

Eine der wenigen Ansichten, in denen Brexit-Anhänger und Verfechter eines möglichst engen Zusammenschlusses der europäischen Staaten miteinander übereinstimmen dürften, ist die Vorstellung, dass Großbritannien anders ist: eine Insel, nicht nur durch die Geografie, sondern auch durch Kultur und Geisteshaltung vom europäischen Festland abgesondert.

Nun sind jedoch historisches Sonderbewusstsein und die Vorstellung, das eigene Gemeinwesen sei grundlegend anders (und irgendwie besser) als alle anderen, nicht auf Großbritannien beschränkt, sondern in der einen oder anderen Form konstitutiv für das Selbstgefühl aller Nationen und Nationalstaaten.1 Man sollte deswegen die These des britischen Exzeptionalismus nicht einfach unhinterfragt hinnehmen.

War die Entscheidung für den Brexit Ergebnis einer verfassungsmäßigen Ordnung und einer politischen Kultur, die grundsätzlich anders sind als auf dem europäischen Festland? Haben wir es also mit einem britischen Sonderweg zu tun oder lediglich mit einem unter vielen nationalen Eigenwegen, wie sie letztlich alle europäischen Nationen auszeichnen?

Traditionell war die demoskopisch ermittelbare öffentliche Meinung in Großbritannien gegenüber der europäischen Einigung durch zwei Phänomene gekennzeichnet: eine relativ geringe Bedeutung der Europa-Thematik bei Wahlen und für das politische Alltagsgeschäft, verbunden mit einer im europäischen Vergleich geringen Identifikation der Briten mit »Europa«. Umfragen der Europäischen Kommission ergaben über Jahre hinweg, dass sich rund 60 Prozent der Briten nicht als Europäer fühlten, während die Vergleichswerte in Frankreich nur bei 40 und in Deutschland bei 30 Prozent lagen.2

Die von Eurobarometer in Umfragen, die das europäische Parlament in regelmäßigen Abständen in Auftrag gibt, ermittelten Zahlen legen nahe, dass in Großbritannien seit den 1990er Jahren ziemlich durchgängig allenfalls 30 bis 40 Prozent der Befragten die britische Mitgliedschaft in der EU für eine positive Angelegenheit hielten. Auch in den von Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union, ermittelten Daten über Vertrauen in europäische Institutionen rangierte das Vereinigte Königreich im europäischen Vergleich kontinuierlich am unteren Rand der Skala.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen