Heft 913, Juni 2025

Der Glückspilz

Die Reagan-Jahre von Jacob Weisberg

Die Reagan-Jahre

Der Tag der Amtseinführung 1981 begann für Ronald Reagan mit einer Nachricht aus dem Weißen Haus. Um 6.47 Uhr morgens rief Jimmy Carter beim designierten Präsidenten an, der auf der anderen Seite der Pennsylvania Avenue im Blair House logierte, um ihn über den Stand der Verhandlungen zur Befreiung der zweiundfünfzig im Iran festgehaltenen amerikanischen Geiseln zu informieren. Carter, der in den beiden vorangegangenen Nächten an dem Deal gearbeitet hatte, war entsetzt, dass Reagan noch schlief und auf seinen Anruf erst fast zwei Stunden später reagierte.

Die gemeinsame Fahrt in der Präsidentenlimousine zum Kapitol – eine Tradition, die bis 2021 fortgeführt wurde, als Donald Trump es ablehnte, der Vereidigung seines Nachfolgers Joe Biden beizuwohnen – verlief dementsprechend unterkühlt. Auf der Fahrt versuchte Reagan, wie es seine Art war, die Spannung mit Witzen und alten Hollywood-Geschichten abzubauen. »Er sprach ständig von Jack Warner«, beschwerte sich Carter später bei einem Assistenten. »Wer ist Jack Warner?«

Diese Anekdote aus Max Boots solider und ausgewogener Biografie Reagan – His Life and Legend sagt viel über den Mann aus, der zur wichtigsten Figur des Nachkriegskonservatismus wurde.1 Im Gegensatz zu Carter hatte Reagan ganz bestimmt nicht vor, nächtelang an Details zu feilen. Während seiner ersten Amtszeit lagen die Feinheiten des Managements in den Händen einer fähigen Troika vertrauenswürdiger Mitarbeiter, die das Weiße Haus am Laufen hielten: James Baker, sein geschmeidig-zielorientierter Stabschef, und zwei verlässliche Männer aus Kalifornien, Edwin Meese, der sich als Kabinettschef um Politik und Ernennungen kümmerte, sowie Michael Deaver, verantwortlich für Medien und PR. Im Gegensatz zu seinem angeschlagenen Vorgänger erwies sich Reagan immer wieder als geradezu unheimlicher Glückspilz. Die Geiseln wurden in den ersten Minuten seiner Präsidentschaft freigelassen – zu spät, um Carter noch etwas zu nützen, aber zum idealen Zeitpunkt, um der neuen Administration gleich eine Aura der Stärke zu verleihen.

Entgegen seiner konfrontativen Rhetorik scheute der neue Präsident persönliche Konflikte und flüchtete sich in Momenten von Stress oder Unbehagen gern in eine Traumwelt voller alter Schauspieler und filmischer Handlungsstränge. Wer war Jack Warner? Jack Warner war der obszöne und skrupellose Mogul an der Spitze von Warner Bros., der Reagans Filmkarriere in Gang brachte, als er ihn 1937 für 200 Dollar pro Woche unter Vertrag nahm. Für Reagan war Warner so etwas wie ein allmächtiger Hollywood-Gott, von dessen Launen Wohl und Wehe eines jeden abhängig waren. Es war Warner, der aus dem »Provinz-Radioansager« aus Des Moines einen echten Star machte.

Reagan bereitete Warner nie Kopfzerbrechen, ganz im Gegensatz zu dem Lebemann Errol Flynn, der verspätet und verkatert am Set auftauchte, seinen Text vergaß und sich weigerte, bis in den Abend hinein zu arbeiten. Reagan, der Flynn in Santa Fe Trail (1940) gegenüberstand, war da längst zu der Ansicht gelangt, dass Verlässlichkeit immer wichtiger sei als Genialität. Die Schauspielerei war ein Job wie jeder andere: Man musste pünktlich erscheinen, seinen Text kennen, seine Ziele erreichen und angenehm im Umgang sein. In der Politik war es nicht viel anders. Warner irrte sich in Reagan aber gewaltig, als er ihn deswegen für einen ewigen Hilfssheriff hielt. Als Reagan 1966 für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien kandidierte, soll Warner gewitzelt haben: »Nein, Jimmy Stewart als Gouverneur, Ronnie Reagan als bester Kumpel.«

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet Reagans Filmkarriere ins Stocken, als die seiner ersten Frau Jane Wyman gerade an Fahrt aufnahm, was zum Scheitern ihrer Ehe wohl nicht unwesentlich beitrug. Er blieb zwar bis 1952 auf der Gehaltsliste von Warner und arbeitete bis in die 1960er Jahre hinein als Schauspieler, doch seine eigentliche Spur in Hollywood hinterließ er nicht als Darsteller, sondern als Gewerkschaftsfunktionär, der unübertroffene sechs Mal zum Vorsitzenden der Screen Actors Guild (SAG) gewählt wurde. Die Gewerkschaftspolitik war einer der Hauptfaktoren bei Reagans Wandel vom Roosevelt bewundernden New-Deal-Liberalen zum Hardliner, Antikommunisten und Rechtskonservativen innerhalb der GOP. (Ein weiterer Faktor war der 94-prozentige Grenzsteuersatz auf Einkommen über 200 000 Dollar, dem er theoretisch unterworfen war, obwohl ihm in Wirklichkeit, wie anderen Schauspielern auch, die Möglichkeit offenstand, nur einen 25-prozentigen Kapitalertragssteuersatz zu zahlen, indem er seine Einkünfte von »temporären Unternehmen« erhielt, die für jeden einzelnen Film neu gegründet wurden.)

Der Politiker Reagan erfuhr seine Prägung in der Periode der »Roten Angst« (Red Scare), während der die Gewerkschaften in heftige Kämpfe verwickelt waren, weil man ihnen kommunistische Verbindungen vorwarf. Bei einem der ersten Streiks, die 1945 und 1946 die Filmindustrie lahmlegten, tat er sich als Anführer seiner Schauspielerkollegen hervor. Zwei verschiedene Gewerkschaften beanspruchten, die Maler, Schreiner und andere Backstage-Arbeiter Hollywoods zu vertreten: die International Alliance of Theatrical and Stage Employees (IATSE) und die Conference of Studio Unions (CSU). Die IATSE war größer und mächtiger, aber auch aufgebläht und korrupt. Die kleinere, aber kämpferischere CSU wurde von dem Bühnenmaler und ehemaligen Boxer Herbert K. Sorrell angeführt, der zwar kommunistische Unterstützung begrüßte, aber selbst kein Parteimitglied war. Die Filmstudios verhandelten lieber mit der IATSE, da diese auch Filmvorführer umfasste, und sie hatten Angst vor deren Hebel, womöglich nicht nur die Produktion, sondern auch die Kinos im ganzen Land stillzulegen. Im März 1945, noch vor Kriegsende, legten mehr als zehntausend CSU-Mitglieder für mehr Anerkennung die Arbeit nieder und brachten einige Produktionen zum Stillstand. Die Entscheidung der Screen Actors Guild (SAG), den Streik zu brechen, wofür Reagan auf einer wichtigen Gewerkschaftssitzung geworben hatte, löste eine neue Runde der Gewalt in Hollywood aus. Später behauptete er, ihm sei sogar ein Säureanschlag angedroht worden und er habe auf Anraten des Sicherheitsdiensts des Studios angefangen, einen Revolver bei sich zu tragen.

Mit jenem Desinteresse an der Wahrheit, das zu seinem Markenzeichen werden sollte, romantisierte Reagan die Niederlage der CSU als triumphalen Sieg über den Kommunismus. So hielt er 1961 regelmäßig Wahlkampfreden, in denen er diese Geschichte in Legende und Lehrstück zugleich verwandelte: »Die hässliche Realität kam auf direkten Befehl des Kremls in unsere Stadt. Hardcore-Parteifunktionäre hatten unsere Branche infiltriert«, sagte Reagan. »Das Ziel war, die wirtschaftliche Kontrolle über unsere Industrie zu erlangen und dann unsere Bildschirme für die Verbreitung kommunistischer Propaganda zu unterwandern.« Das war ein reiner Mythos, der aber nie ganz verschwunden ist und erst kürzlich in dem lächerlich schlechten Biopic Reagan (2024) mit Dennis Quaid in der Hauptrolle wieder auftauchte. In Wirklichkeit haben die Kommunisten die CSU keineswegs in der Hand gehabt, und es gab nie einen Plan des Kreml, Hollywood in eine Propagandafabrik zu verwandeln.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen