Der Krieg der Armen
von Eric VuillardSein Vater war gehängt worden. Er war ins Leere gefallen wie ein Sack Körner. Man hatte ihn nachts auf den Schultern tragen müssen, aber er war schweigsam geblieben, den Mund voller Erde. Dann ging alles in Flammen auf. Die Eichen, die Wiesen, die Flüsse, das Labkraut in den Hecken, die ärmliche Erde, die Kirche, alles. Er war elf Jahre alt.
Schon mit fünfzehn hatte er, weil er ihnen den Tod seines Vaters anlastete, ein geheimes Bündnis gegen den Erzbischof von Magdeburg und die Römische Kirche gegründet. Er las den Klemensbrief, das Martyrium des Polykarp, die Fragmente des Papias. Mit ein paar Kameraden besang er die Herrlichkeiten Gottes, watete im Morgenrock durch den Jordan und zeichnete das kosmische Rad, Zeichen der Einheit, mit Kreide auf den Boden; der Reihe nach legten sich alle hinein und streckten beide Arme zur Seite, damit der Himmel auf Erden komme. Und er erinnerte sich an den Leichnam seines Vaters, an seine Zunge, ungeheuer groß wie ein einmaliges Wort, das getrocknet wäre. »Ich lebte in der Freude, doch mit Gott vereint man sich nur in furchtbaren Schmerzen und Verzweiflung.« Das war, was er glaubte.
Der kleine Thomas Müntzer las die Bibel, er wuchs mit Ezechiel, Hosea und Daniel auf, aber es waren Gutenbergs Ezechiel, Gutenbergs Hosea und sein Daniel; und nachdem er den morschen Türflügel hinter sich gelassen hatte, der sich langsam öffnete und auf den Boden schlug, saß er lange unten, in der alten Küche, und rieb sich die Augen. Er wusste weder, was er sah, noch was er sehen sollte. Er war einsam wie ein Dieb, und unschuldig.
Die Zeit verging; er lebte bei seiner Mutter, sehr kärglich bestimmt. Sein Herz machte ihm zu schaffen. Unter den Eichen, den Tannen, auf der ärmlichen Erde im Harz musste er, während er mit anderen Kindern den Schweinen nachlief, alleine stehenbleiben, dumm plötzlich, und weinen. Ja, ich stelle ihn mir vor am Ufer eines Flusses mit kleinen schwarzen Kieselsteinen, die Wipper oder der Krebsbach, egal, oder auf den Abhängen der tristen kleinen Gipfel aus felsigem Urgestein, abgetragene Hügel, schäbige Torfmoore, im Tal der Bode oder der Oker, wie er an einer Mischung aus Bitterkeit und Liebe erstickt.
Schließlich studierte er in Leipzig, wurde Pfaffe in Halberstadt, in Braunschweig, dann hier und dort Probst, und nach einer ganzen Reihe von Unbilden kroch er inmitten der Schar aller Luther-Anhänger 1520 aus seinem Loch, ernannt zum Prediger in Zwickau. Die Stadt ist zweigeteilt. Auf der einen Seite die Patrizier, in der Marienkirche, auf der anderen, in der Katharinenkirche, das gemeine Volk. Vernunft und Reinheit sind für die Armen; vor ihnen gerät Müntzer in Wallung, hier entzündet sich seine Wunde aufs Neue. Er spricht. Man hört ihm zu. Er zitiert das Evangelium: »Ihr könnt nicht beiden dienen: Gott und dem Mammon.« Er glaubt, die Texte einfach, ihrem Wortsinn nach lesen zu können; er glaubt an ein authentisches und reines Christentum. Er glaubt, dass bei Paulus alles Schwarz auf Weiß geschrieben steht, dass alles Nötige in den Evangelien zu finden ist. Daran glaubt er.
Und das sollte er den armen Tuchmachern predigen, den Bergarbeitern, ihren Frauen, allen Elenden in Zwickau. Er zitiert das Evangelium und setzt ein Ausrufezeichen dahinter. Und man hört ihm zu. Und die Leidenschaften flammen auf, denn sie spüren, die Tuchmacher, dass man nur an einem Faden zu ziehen braucht, damit sich die ganze Webarbeit auflöst, und sie spüren, die Bergarbeiter, dass der ganze Stollen einstürzt, wenn man nur weit genug gräbt. Also sagen sie sich allmählich, dass man sie belogen hat. Lange schon hatten sie einen störenden, unangenehmen Eindruck, es gab eine ganze Reihe von Dingen, die niemand verstand. Sie sahen nicht ein, weshalb Gott, der Gott der Bettler, gekreuzigt zwischen zwei Schächern, so viel Glanz nötig hatte, weshalb seine Minister so viel Luxus nötig hatten, manchmal war ihnen unbehaglich zumute. Warum war der Gott der Armen so seltsam auf Seiten der Reichen, immer mit den Reichen? Warum forderte er aus dem Mund derer, die alles genommen hatten, alles zu lassen?
Gott und das Volk sprechen die gleiche Sprache
Müntzer wurde aus Zwickau vertrieben, er verbrachte kaum ein Jahr dort. Er ging daraufhin nach Böhmen. Dort herrschte Aufbruchsstimmung. Das Große Schisma lag noch nicht lange zurück. Wie fast überall folgte eine Häresie der nächsten. Ein Durst nach Reinheit wehte durch das Land, fesselte die Mengen, unterbrach rücksichtslos die alten Reden. Plötzlich schlich sich der Geist in die Häuser. Nachts quakten die Frösche eine unaussprechliche Wahrheit, man würde sie aussprechen. Der Schnabel des Geiers hieb in das Fleisch der Kadaver, man würde ihn zum Sprechen bringen. Die Bibel schien dem menschlichen Verstand geöffnet werden zu müssen. Doch es war in England, wo man zuerst den großen Sprung wagte. John Wyclif hatte eine Idee, oh, eine winzige Idee nur, eine nicht nennenswerte Idee, die jedoch viel Wirbel machen sollte. John Wyclif hatte die Idee, es gebe eine direkte Beziehung zwischen den Menschen und Gott. Aus dieser ersten Idee folgt logisch, dass sich mithilfe der Heiligen Schrift ein jeder selbst zurechtfinden kann. Und aus dieser zweiten Idee folgt eine dritte: Es braucht keine Prälaten mehr. Fazit: Die Bibel muss ins Englische übersetzt werden. Wyclif – dem es sichtlich nicht an Ideen mangelte – hatte noch zwei, drei andere schreckliche Einfälle: Er schlug zum Beispiel vor, die Ernennung der Päpste auszulosen. Was für ein Irrsinn! In seinem Eifer kam es auf einen Irrsinn mehr oder weniger nicht an, er erklärte die Sklaverei zur Sünde. Dann behauptete er, der Klerus solle künftig nach der evangelischen Armut leben. Schließlich, um endgültig alle zu nerven, verwarf er die Transsubstantiation als eine geistige Verirrung. Und zuguterletzt hatte er seinen allerschrecklichsten Einfall und predigte die Gleichheit der Menschen.
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