Heft 845, Oktober 2019

Der Krieg der Armen

von Eric Vuillard

Sein Vater war gehängt worden. Er war ins Leere gefallen wie ein Sack Körner. Man hatte ihn nachts auf den Schultern tragen müssen, aber er war schweigsam geblieben, den Mund voller Erde. Dann ging alles in Flammen auf. Die Eichen, die Wiesen, die Flüsse, das Labkraut in den Hecken, die ärmliche Erde, die Kirche, alles. Er war elf Jahre alt.

Schon mit fünfzehn hatte er, weil er ihnen den Tod seines Vaters anlastete, ein geheimes Bündnis gegen den Erzbischof von Magdeburg und die Römische Kirche gegründet. Er las den Klemensbrief, das Martyrium des Polykarp, die Fragmente des Papias. Mit ein paar Kameraden besang er die Herrlichkeiten Gottes, watete im Morgenrock durch den Jordan und zeichnete das kosmische Rad, Zeichen der Einheit, mit Kreide auf den Boden; der Reihe nach legten sich alle hinein und streckten beide Arme zur Seite, damit der Himmel auf Erden komme. Und er erinnerte sich an den Leichnam seines Vaters, an seine Zunge, ungeheuer groß wie ein einmaliges Wort, das getrocknet wäre. »Ich lebte in der Freude, doch mit Gott vereint man sich nur in furchtbaren Schmerzen und Verzweiflung.« Das war, was er glaubte.

Der kleine Thomas Müntzer las die Bibel, er wuchs mit Ezechiel, Hosea und Daniel auf, aber es waren Gutenbergs Ezechiel, Gutenbergs Hosea und sein Daniel; und nachdem er den morschen Türflügel hinter sich gelassen hatte, der sich langsam öffnete und auf den Boden schlug, saß er lange unten, in der alten Küche, und rieb sich die Augen. Er wusste weder, was er sah, noch was er sehen sollte. Er war einsam wie ein Dieb, und unschuldig.

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