Heft 843, August 2019

Der Nate-Silver-Schock

Ein transatlantischer Spiegelblick auf den Rechtspopulismus von Per Leo

Ein transatlantischer Spiegelblick auf den Rechtspopulismus

Eine kurze Geschichte der Gegenwart aus Sicht des Autors

Als ich im August 1989 – am Ende eines langen Sommertages, der morgens in München trüb und abends in Chicago gleißend hell gewesen war – bei Dunkelheit und Regen auf dem Ted Stevens Anchorage International Airport landete, hatte ich nicht nur Bayern, das größte Bundesland der BRD, gegen Alaska, den größten Teilstaat der USA, getauscht. Ich war auch in eine Gesellschaft eingereist, deren politische Kultur sich faszinierend von dem unterschied, was ich von zuhause kannte. »Politisch zu sein« erforderte damals in Westdeutschland nicht mehr als zwei innere Zustände: zum einen ein heftiges Gefühl gegenüber der Vergangenheit, zum anderen eine nicht minder starke Vision der Zukunft, die man sich aber, je nach Temperament, genauso gut als postnukleare Apokalypse wie als Zustand ewigen Friedens vorstellen konnte. Unter diesen Bedingungen waren politische Diskussionen immer nah an den großen metaphysischen Fragen gebaut, den Gegensätzen von Gut und Böse, von Schuld und Unschuld, von »Auschwitz« beziehungsweise »Atomkrieg« auf der einen, idyllischen Landschaften ohne Autos und Gewalt auf der anderen Seite. Jedes noch so kleine Ereignis erschien weltanschaulich bedeutsam, jede noch so beiläufige Handlung fand in einem Drama namens Weltgeschichte statt. Gesten galten als Taten, Symbole als Gedanken. Stolz und erregt verfassten wir, nachdem um einzelne Wörter erbittert gestritten worden war, kritische Resolutionen an das Kultusministerium (wo sie ungelesen in der Ablage »Post von Schülersprechern« landeten); in den Klassenzimmern trennten wir sorgfältig Müll (der sich bald im Raum der Schülermitverwaltung zu einer riesigen Halde türmen sollte); im Schatten der Berliner Mauer verglichen wir die Ideale des Frühchristentums mit denen des Kommunismus (auf der obligatorischen Klassenfahrt, von der wir fast suspendiert worden wären, nachdem wir auf unserer Jugendherberge die Sowjetflagge gehisst hatten). Dank der ewigen Diskussionen und zeichenhaften Taten, die über Wohl und Wehe der Welt zu entscheiden schienen, erinnerte der politische Existentialismus in der späten Bundesrepublik eher an die Romane Dostojewskis als an eine Praxis, der es darum ging, mit bestimmten Mitteln konkrete Ziele zu erreichen.

Zu meiner großen Überraschung war das Adjektiv »politisch« in den Vereinigten Staaten ungebräuchlich, um sich selbst oder andere zu beschreiben. Niemand musste »politisch sein«, denn das öffentliche wie das private Leben war voll von politischen Fragen, politischer Sprache und politischer Bedeutung. Das hieß aber nicht, dass das Politische sich in einer totalen oder gar totalitären Weise aufgedrängt hätte – es war einfach nur allgegenwärtig. Statt ständig die Lasten der Vergangenheit und die Verantwortung vor der Zukunft im Kopf zu wälzen, bezog man hier einfach Stellung zu Fragen, die einem wichtig erschienen. Man war »pro life« oder »pro choice«, in der Panama-Frage war man ein »Falke« oder eine »Taube«, man hielt das Verbot, die US-Flagge zu verbrennen, für berechtigt oder nicht. In der Highschool debattierten Schüler, die sich als kommende Politiker sahen, auf offener Bühne über aktuelle Themen; junge Patrioten nahmen an den Übungen des JROTC (Junior Reserve Officers’ Training Corps) teil; Inuit, die ihre Stammesidentität pflegen wollten, gingen in den Native Culture Club; und wer journalistische Ambitionen hegte, arbeitete als Reporter oder Fotograf für das Yearbook. Im Politikunterricht bekamen wir den Dokumentarfilm The Power Game zu sehen, eine Lektion in schonungslosem Realismus, die nichts mit den schematischen Darstellungen politischer Systeme zu tun hatte, die ich aus den deutschen Schulbüchern kannte. Und selbst symbolische Handlungen hatten Folgen. Als ein couragierter Zehntklässler auf einem Schulfest die Jimi-Hendrix-Version der Nationalhymne spielte, zog die Rektorin persönlich seiner E-Gitarre den Stecker, entwendete ihm das Mikrofon und sagte: »Söhnchen, wir sehen uns in meinem Büro; und für alle anderen: So lange ich hier das Sagen habe, wird so etwas nie wieder vorkommen.«

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