Der Romantik-Popanz
Ein Wiedergänger von Stefan MatuschekVon der Romantik auf schiefer Ebene hinab bis zu Hitler: Das Schreckgespenst des romantisch-deutschen Irrationalismus wird derzeit wieder einmal mit großem Gestus mahnend beschworen. Es ist ein leerer Spuk. Denn erstens sind Nationalcharaktere ohnehin nur imaginäre Größen, zweitens ist die Geschichte kein Fatum, dem die Akteure ausgeliefert wären, und drittens ist die Romantik keine typisch deutsche, sondern in ihren ersten Inspirationen eine englische, schottische, deutsche und französische Erscheinung, die sich schnell und in großer Vielfalt und Verschiedenartigkeit über Europa und auch darüber hinaus ausbreitete. Die Verschiedenartigkeiten verliefen dabei nicht entlang der Landesgrenzen, sondern lagen quer dazu. Novalis und Chateaubriand etwa formulierten zur gleichen Zeit und ohne voneinander zu wissen ein sehr ähnlich ästhetisiertes Christentum. E. T. A. Hoffmann war der englischen Schauerromantik enger verbunden als den meisten deutschsprachigen romantischen Autoren seiner Zeit, und er stieß in England und Frankreich zunächst auf eine unvergleichlich größere Resonanz als in Deutschland.
Romantische Impfgegner?
Neu ist die Anrufung der romantischen Irrationalismus-Topoi nicht. Botho Strauß’ 1984 erschienener Roman Der junge Mann enthält ein »Der Wald« überschriebenes Kapitel, das aus Klischeemotiven der Romantik und in parodistischer Anlehnung an Novalis’ allegorische Märchen den deutschen Nationalcharakter vorführen will. Man ist nicht überrascht, darin auch eine Allegorie des Nationalsozialismus zu finden. Sie erscheint als ein Aufmarsch eines nach Berufsständen hierarchisch gegliederten »Volk[s]«, das von einer Führerfigur an seiner Spitze »aus seiner ›Ödnis‹ herausgeführt werden wollte«. Ziellos im Wald herumlaufend, verschlingt sich diese Menschenschlange schließlich Stück für Stück von hinten, bis »nichts mehr übrigblieb als die Führung selbst, hinter ihr aber nur Blut und Zerfall«.
Der jüngste Buchmarkterfolg eines Literaturkritikers, Michael Maars stilgeschmäcklerische Abhandlung über Das Geheimnis großer Literatur, bietet zur Romantik nichts anderes als Mäkelei und den Hinweis, dass der Nazi-Ausdruck »Kraft durch Freude« schon bei Hölderlin vorkomme. Sehr knapp, beinahe lakonisch fasst sich der französische Romancier Frédéric Beigbeder, wenn er seinen autobiografisch angelegten Romantischen Egoisten in dem tagebuchartigen Roman notieren lässt: »Und ohne Romantik: keine Liebe, kein Hitler.«
Bei Strauß und Beigbeder werden die verwendeten Topoi als solche bewusst. Beide Autoren spielen mit dem zentralen Deutschland-Klischee. Erstaunlich ist, dass es trotzdem immer wieder wie neu hervorgeholt wird. Im Winter 2021/22 waren die Zeitungen und andere Medien voll mit Beiträgen, die die im Vergleich zu West-, Nord- und Südeuropa geringeren Impfquoten in den deutschsprachigen Gebieten auf die Romantik zurückführen wollten.
Als Bindeglieder werden ein naives Natürlichkeitsideal und die zugehörige Technik- und (Pharma)Industriefeindschaft angeführt oder konkreter: die medizinische Esoterik. Tatsächlich kann man hier Zusammenhänge sehen. Samuel Hahnemann gründete die Homöopathie auf das Ähnlichkeitsprinzip zwischen den Krankheits- und Arzneimittelsymptomen. Gebraucht er damit nicht genau den »Zauberstab der Analogie«, den Novalis empfiehlt? Und steckt im homöopathischen Prinzip der Potenzierung, das die Verwässerung zur Steigerung umdeutet, nicht dieselbe zahlenskeptische poetische Kreativität, die Novalis in die Verse »Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren || Sind Schlüssel aller Kreaturen« gefasst hat? Kann man das Alternative an der alternativen Medizin nicht insgesamt treffend als das Romantische bezeichnen, indem man darunter die analogieselige Ausrichtung auf ein imaginäres Ganzheitsideal versteht?
Wer solche Überlegungen beginnt, wird seinerseits zum Analogiezauberer. Die Problemkontexte der frühromantischen Poetik einerseits und der aktuellen Impfgegner andererseits sind zu verschieden, als dass man die beiden Positionen in einen sachlichen Zusammenhang bringen könnte. Direkt spitzt jedoch der Zeit-Feuilletonchef Volker Weidermann die Sache auf Novalis zu: »Aber ja, er ist schuld!«. Die Ursache, argumentiert Weidermann, sei die in Novalis’ Hymnen an die Nacht zum Ausdruck kommende »Liebe zum Tod«, die »in all ihrer dichterischen Schönheit bis heute ein deutsches Verhängnis« sei. Ich kann nicht entscheiden, ob Weidermann ernsthaft annimmt, dass die Impfgegnerschaft aus einer romantischen Liebe zum Tod herrühre, oder ob das eine hinterhältige Formulierung sein soll, um die Impfverweigerer zu provozieren. (Das zweite erschiene mir schlüssiger.)