Heft 889, Juni 2023

Der russische Uroboros

von Michail Schischkin

N: Du sagst, ein neuer Anfang in Russland sei unmöglich, denn dafür müsste es erst einmal an ein Ende gelangen.

Doch etwas spricht dafür, dass eine andere Weltordnung als das Gefängnis auch in Russland möglich sein muss: nämlich weil dies der Lauf der Dinge ist, ein Naturgesetz, so wie jeder Fluss am Ende im Ozean landet. Die Menschheit entwickelt sich auf dem Wege der Humanisierung. Anfangs haben sie einem schwächlichen Neugeborenen den Schädel eingedrückt, den Alten nichts mehr zu essen gegeben, das war die Norm. Aber die wandelt sich. Erst musste der Schwache vor dem Stärkeren zurücktreten, heute muss der Starke dem Schwächeren den Vortritt lassen. Die Willkür des Diktators macht dem Rechtsstaat Platz. In einer Welt, in der deine Rechte von wirksamen Gesetzen geschützt werden, lebt es sich leichter und angenehmer als da, wo sie dich jeden Moment nackt machen und in den Knast stecken können. Die ganze Menschheit entwickelt sich dorthin, warum soll Russland da eine Ausnahme machen?

Ы: Der Große Streit unter den Russen, den Nikolai Gogol und Wissarion Belinski einst angezettelt haben, wurde am 24. Februar 2022 ad acta gelegt. Beide Seiten haben verloren. Weder konnte der Glaube an Gott die toten Seelen wiederbeleben, noch haben die Errungenschaften der europäischen Zivilisation, Bildung und Kultur, »Russland erretten« können. Es war ja in dem Streit gerade darum gegangen, wie die Norm zu verändern sei, damit die Totgeborenen zu Menschen, die Knechte zu freien Bürgern werden.

Die gesellschaftliche Norm zeigt an, welches Mindestmaß an Niedertracht eine Gesellschaft zum Leben braucht. Niedertracht ist überall in der Welt. Aber in Russland zahlt einen höheren Preis, wer auf sie verzichten will. Gogol suchte mit seiner Nation, dem nicht auserwählten Volk, einen Bund zu schließen: »Man muss den Menschen daran erinnern, dass er kein materielles Stück Vieh ist, sondern Angehöriger einer hohen, himmlischen Nation. Solange er nicht halbwegs das Leben eines Himmelsbürgers führt, wird auch seine irdische Staatszugehörigkeit keine Fortschritte machen.« Die toten Seelen sollten in Christus lebendig werden, ganz wie Tschitschikow in Band 3, wenn er sich zuletzt in sibirischer Zwangsarbeit die russische Himmelsbürgerschaft verdient – »erlitten« – haben würde. Tschitschikow aber begehrte auf gegen seinen Urheber und legte Feuer an seine russische Blockhütte, nämlich an das Manuskript, in dem er wohnte.

Belinski seinerseits hatte in seinem ewigen Oppositions-Blog geschrieben, Russland sehe seine Rettung »im Fortschreiten der Zivilisation, der Aufklärung und der Menschlichkeit. Es braucht keine Predigten (es hat ihrer genug gehört!), keine Gebete (es hat ihrer genug heruntergeleiert!), sondern das Wiedererwachen des Gefühls der Menschenwürde im Volk, das so viele Jahrhunderte hindurch in Schmutz und Unrat verlorengegangen war – es braucht Rechte und Gesetze, die nicht den Lehren der Kirche entsprechen, sondern dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit, und die möglichst streng gehandhabt werden. Stattdessen bietet Russland den abscheulichen Anblick eines Landes, wo es […] nicht nur keinerlei Garantien für die Unantastbarkeit der Person, der Ehre und des Eigentums gibt, sondern nicht einmal eine Polizeiordnung, nur riesige Korporationen von beamteten Dieben und Räubern!«

Ein Superschwergewichtskampf, ausgetragen von der russischen Literatur: innere Neugeburt durch Christus vs. Umbau der Gesellschaft. Fjodor Dostojewski hat sich zeit seines Lebens sozusagen am dritten Band der Toten Seelen versucht. Ergebnis seines Mühens: viel heiße Luft und jede Menge Sprengstoff. Das Land ist nicht etwa Aljoscha Karamasow ins Kloster gefolgt, sondern den Dämonen in den revolutionären Terror. Als die Autoren des Almanachs Wechi [Wegzeichen] das weiße Handtuch in den Ring warfen, war ein blutiger Brei eingerührt, den wir bis heute auszulöffeln haben. Jedenfalls kam keine der beiden Ideen zum Tragen: Weder konnte Jesus Christus den Russen zur Himmelsbürgerschaft verhelfen, noch haben Volksbildung, Internet und offene Grenzen zu mehr Zivilisation, Aufklärung und Humanität geführt. Heute besteht die Anleihe, die die Russen bei der europäischen Zivilisation genommen haben, nur noch aus zwei Buchstaben: dem V und dem Z.

N: Allgemeingültige Normen fallen ja nicht vom Himmel, sie werden von Menschen gemacht und geändert. Und dass die Mächtigen zu bestimmen haben, was wahr ist, haben nicht immer alle Russen so gesehen. Der Mensch ändert sich selber auch, er setzt sich seine Lebensregeln neu und bringt dadurch die Gesellschaft dazu, sich zu wandeln. Im August 1968 waren es eine Handvoll Leute, die sich auf den Roten Platz stellten und wussten, dass sie unterliegen würden, mit ihrem Opfer nichts erreichten, und doch hat diese Tat etwas in uns allen verändert. Oder denke daran, wie dich in einem späteren August, du warst ein junger Lehrer und gerade in den Ferien auf der Datscha, die Kunde vom Putsch ereilte. Wie du nach Moskau fuhrst zum Weißen Haus, dort waren Tausende und Abertausende auf den Barrikaden. Dort trafst du deine Schüler aus der 9b, deren Klassenlehrer du warst. Damals hast du noch gedacht, du wärst vielleicht doch kein ganz schlechter Lehrer, wenn du ihnen etwas mehr beigebracht hast als nur das Plusquamperfekt. Sie und du, ihr habt das Land vor euren Augen verändert. Und genauso ändert heute derjenige die Weltlage, der mit einem Schild »Nein zum Krieg« auf die Straße geht, um anschließend im Knast zu landen. »Die sieben Leute auf dem Roten Platz sind mindestens sieben Gründe, weshalb wir die Russen niemals werden hassen können«, schrieb seinerzeit eine Prager Zeitung. Jeder, der heute gegen den Krieg demonstriert, ist ein Grund mehr dafür. Es sind Einzelne, aber jemand muss immer den Anfang machen.

Ы: Weißt du noch, wie unsere Grundschullehrerin die Fabel von der Eiche und dem Schilfrohr vortrug? Für uns war’s ein Märchen, für sie gelebte Erfahrung. Die Welt ist fassungslos, dass eine Regierung ihre »Wählerschaft« zum Töten und Verrecken in die Ukraine treibt, und »das Volk bleibt stumm«. Wo sind die Millionen auf Russlands Straßen? Wo die Streiks? Sind die Russen tatsächlich eine »Nation von Sklaven«? Die Millionen in der übrigen Welt, die gegen diesen Krieg bereits demonstriert haben, können nicht nachvollziehen, dass das Verstummen eine Überlebensstrategie über Generationen hin war und ist. Aber du weißt, wie das geht. In den 1930er Jahren ist unser Großvater zum Kulakenfreund erklärt worden, weil er protestierte, als man seine Kuh für die Kolchose einkassierte. Andere schwiegen und überlebten, er wurde verhaftet und ging im Gulag vor die Hunde. Während Mama in ihrer Schule 1982 der Oberstufe einen Wyssozki-Abend auszurichten erlaubte, obwohl sie von allen Seiten gewarnt worden war, doch lieber »stumm zu bleiben« – man hat sie, die Direktorin, mit einem ordentlichen Skandal von der Schule geschmissen, sie hat das nicht verwunden, der Krebs nahm von ihr Besitz. Solche Geschichten hat es in jeder Familie gegeben.

Ist einer nicht bereit, sich dreinzuschicken und stumm zu bleiben, wird die Macht ihn vernichten. So war es hier immer, von Anfang an, als Fürstin Olga »warägischer Zunge« den Genozid an den Derewljanen anzettelte und Alexander Newski im Namen seines Khans aufständischen Nowgorodianern die Augen ausstechen ließ, beides Heilige für die Russen, nebenbei gesagt. Und so ging das fort von einer Station zur nächsten, über Iwan den Schrecklichen zu Jossif Wissarionowitsch, den Vergeltungsaktionen in Tschetschenien und bis hin zum heutigen Genozid an den Ukrainern, die es gewagt haben, ein russisches Kriegsschiff zu verhöhnen. Russlands Geschichte zeigt, wie das Gesetz der natürlichen Auslese funktioniert: Der aktivste, aufgeklärte Teil der Bevölkerung wurde von Staats wegen eliminiert, sofern er nicht ins Exil ging. Bei der Gründung des Russischen Staates hatten Usurpatoren die Finger im Spiel, setzten sie gegen die Einheimischen durch. Die Waräger fingen damit an, die Horde machte so weiter. Herrscher und Volk sind einander fremd. Und der Fremde ist immer der Feind, den zu schonen sich verbietet. Dieses Selektionsexperiment an der russischen Bevölkerung währt seit Jahrhunderten. Eichen wurden ausgerissen, das Schilfrohr pflanzte sich fort. So setzten sich über Generationen hinweg jene Eigenschaften durch, die zum Leben in der Zone.ru am nötigsten waren. Russlands vitale Kräfte und Überlebensinstinkte kulminierten in der Kunst, sich auf die Zunge zu beißen.

N: Das Land hat aber auch die Freiheit gekannt. Es hat Erfahrungen im Kampf für die Demokratie, auch Siege kamen dabei vor. Im Frühling 1917, nach einer wahrhaft vom Volk getragenen Revolution, war Russland das freieste Land der Welt. Die Leute erhielten Rechte, von denen andere Völker nicht zu träumen wagten. Frauenrechte zum Beispiel, wie sie die Schweizerinnen erst ein halbes Jahrhundert später errangen. Auch in den 1990ern – das ist schon unsere eigene Erfahrung – herrschte Freiheit in Russland.

Es stimmt einfach nicht, dass die Russen für die Demokratie noch nicht reif seien. Alle Diktaturen haben letztlich nur den einen Feind: das freie Wort. Es hat am Ende jedes Mal triumphiert. Auch im Duell zwischen dem Dichter und dem Zaren hatte Letzterer nicht die Spur einer Chance. Die Russen sind keine Sklaven von Geburt, man hat sie dazu gemacht. Man kann jedes Volk pervertieren – denk nur an die Deutschen. Der Hitlerstaat hatte Zyklon B zur Gesetzesnorm erhoben. Heute ist dort die Verfolgung des Antisemitismus die Norm. Der Staat kann seine Bürger missbrauchen, und er kann sie erziehen. Antisemitismus gibt es überall, den Unterschied macht, ob man ihn ahndet oder fördert.

Systematisch hat die russische Macht ihre Untergebenen, eine Generation nach der anderen, abgehalftert – Menschen wurden zu »Orks« gemacht. Darin bestand die einzig erkennbare Staatspolitik der letzten zwanzig Jahre, die Propaganda hat dafür gesorgt. Vor unseren Augen wurde die Norm in dieser Zeit verrückt, Denunziationen zu Hunderttausenden waren die Folge. In Russland hängt alles vom Staat ab. Russen werden zu Orks, wenn der Staat es so will, oder sie werden zu besseren Schweizern. Eine Nation von Sklaven gibt es nicht. Denk an die Millionen Emigranten, die nicht nur keine Mühe haben, sich in demokratische Normen einzuleben, sondern »mit Herz und Talent«, das in Russland lange brachgelegen hat, in einer offenen Gesellschaft zu Anerkennung und Erfolg kommen. Nähme man sie alle zusammen, ergäbe sich das ersehnte »herrliche Russland der Zukunft« wie von allein.

Ы: Propaganda fruchtet nur da, wo der Boden bereitet ist. Den meisten Russen ist es schlecht ergangen in der pseudodemokratischen Marktwirtschaft. Generationen hindurch waren die Leute um den Ertrag ihrer Arbeit betrogen worden, bekamen den Prunk des Imperiums dafür. Wurden gegängelt, durften weder für sich denken noch entscheiden. Es glich der Stumpfheit eines lang gedienten Soldaten. Aus den Reihen der Armee entlassen, musste er auf einmal für sein Leben selbst Verantwortung tragen, den eigenen Weg finden. Die Leute sehnten sich zurück nach der alten Übersichtlichkeit, nach Ordnung, Obrigkeit. Als das Land sich nach dem langen Darben der Sowjetzeit zum ersten Mal überfressen hatte, packte es die Melancholie. Genauer gesagt, die berühmte russische toska. Die Leute sehnten sich nach einem klaren Weltbild, nach Grenzen, Frontlinien zwischen dem Eignen und dem Fremden, nach einem, der weiß, wo es langgeht, dem Genossen Kommandeur, dem Großen Sieg, der ruhmvollen Heimat. Von dieser Art Sehnsucht geht ein saurer Geruch aus, so wie es aus Soldatenstiefeln riecht. Ja, zwei Versuche hat es gegeben, das Vaterland zu lüften, um frei darin atmen zu können. In deren Folge ist die Luft noch knapper geworden. 1917 hielt die Freiheit nur Monate, in den 1990ern mit Ach und Krach ein paar Jahre.

Jedes Mal, wenn versucht wird, freie Wahlen, eine Verfassung, ein Parlament einzuführen, geht das Land in Anarchie und Banditentum unter und taucht in einem totalitären Imperium wieder auf. Die russische Geschichte hat sich in ihren Schwanz verbissen, würgt und schluckt. Gogol hatte uns alle in eine geflügelte Troika-Kutsche gesetzt, die in die Zukunft fliegen sollte. Aber diese seine Zukunft war, bei Lichte besehen, unsere monströse Vergangenheit, das von Leichen übersäte 20. Jahrhundert. Heute würde er Russland wohl mit einer Untergrundbahn vergleichen, die seit hundert Jahren durch die Tunnel rast, im Pendelverkehr zwischen den Endbahnhöfen »Ordnung der Diktatur« und »Chaos der Demokratie«. Nur die ramponierten Stationsschilder werden manchmal ausgewechselt. Einst fuhren wir vom »Zarenreich« in die »1917er Anarchie«, retour ins »Stalinregime« und von da in die »Wilden Neunziger«. Jetzt geht es wieder in die andere Richtung, bis zum Bahnhof »Endsieg Operation Z«. Wie die Fahrt dann weitergeht, kann man sich ausmalen.

N: Das heißt aber doch, beim nächsten Mal könnte die Frischluftkur länger währen. Vierzig Jahre in der Wüste, multipliziert mit den langen russischen Wintern … Militärische Siege haben das Regime stets gefestigt, Niederlagen haben sein Ende beschleunigt. Bedenke, womit der Japankrieg endete, der Erste Weltkrieg, Afghanistan! Womit wird die »Spezialoperation« enden?

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors