Heft 846, November 2019

Der Zweite Weltkrieg in der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts

von Jan Eckel

Der deutsche Angriff auf Polen vor achtzig Jahren eröffnete den mörderischsten Krieg, den jemals ein Staat geführt hat. Den Beginn des Zweiten Weltkriegs stellte dieser Überfall allerdings nicht dar. Der Weltkrieg begann zwei Jahre zuvor mit der japanischen Invasion Chinas. Nachdem Japan am Anfang der dreißiger Jahre die Mandschurei erobert hatte, entwickelte sich seit Juli 1937 rasch ein ebenso großflächiger wie verheerender Krieg. Dabei dürfte die Mehrzahl der Todesopfer, die China im Zeitraum bis 1945 zu beklagen hatte – vielleicht 20 Millionen, nur in der Sowjetunion mussten mehr Menschen sterben –, bis 1940 umgekommen sein, als die deutschen Angriffe in Europa noch vergleichsweise wenige Tote gefordert hatten. Die Unterwerfung Chinas war der Kern von Japans expansionistischem Projekt. Der gesamte Pazifikkrieg hatte für die japanische Führung eine abgeleitete Bedeutung: Sie glaubte, die Vereinigten Staaten angreifen zu müssen, weil sie Südostasien erobern wollte; mit der Eroberung Südostasiens wiederum wollte sie sich die Rohstoffe sichern, um China zu beherrschen.

Die Sowjetunion sah sich durch den japanisch-chinesischen Krieg unmittelbar herausgefordert und führte 1938/39 im mandschurisch-mongolischen Grenzgebiet mehrere Kurzkriege gegen Japan. In Polen ließ Stalin seine Truppen erst einmarschieren, nachdem ein Waffenstillstand geschlossen war. Und auch die Roosevelt-Regierung in den USA zog eine klare Linie: Japan musste China räumen, wenn es einvernehmliche Beziehungen aufrechterhalten wollte. Somit hatte Japan 1937 einen die Weltpolitik in hohem Maße destabilisierenden Großkrieg entfesselt. Infolge des amerikanischen Kriegseintritts 1941/42 vernetzte sich dieser dann mit dem europäischen Geschehen zu einem nunmehr in jedem Sinn globalen Krieg.

Den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit den japanischen Eroberungen anzusetzen bedeutet, mit der Betrachtungsweise zu brechen, an die sich die westliche Historiografie seit langem gewöhnt hat. Sie hat den Krieg ganz überwiegend aus nationaler oder europäischer Perspektive beschrieben. Zwar gibt es nicht wenige rein kriegsgeschichtliche Darstellungen, die den pazifischen Krieg ab 1941 einbeziehen, doch betrachten sie diesen oft als einen tendenziell nachgeordneten Schauplatz.1 Und gerade die übergreifenden Interpretationen sind gedanklich vor allem von der europäischen Geschichte her entwickelt worden. So ist die Frage, ob sich der Krieg mit Blick auf die ausufernden Kriegsziele, die hochgradige Umstellung der Wirtschaftsproduktion auf den Kriegsbedarf und die immense Zahl ziviler Todesopfer als »totale« Auseinandersetzung ansehen lasse, ganz vorrangig am europäischen Schauplatz diskutiert worden (sowie daneben an den USA).2 Eher noch stärker bewegt sich die Deutung eines Zeitalters der Weltkriege und eines modernen »Dreißigjährigen Kriegs« in einem europäischen Bezugsrahmen.3 Ihr zufolge verleihen sowohl die Ähnlichkeiten im Erscheinungsbild als auch die kausalen Zusammenhänge zwischen den beiden Weltkriegen den Jahren von 1914 bis 1945 eine einheitliche Signatur.

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