Heft 905, Oktober 2024

Die Aisthesis der Luft

Klima als Medium verstehen von Eva Horn

Klima als Medium verstehen

An einem kühlen, strahlenden Tag im März 2017 besuchte ich das MoMa PS1, einen Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst am Rand von Queens, New York. Der Frühling hatte noch nicht angefangen, die Bäume waren kahl, aber der Himmel war, wie so oft in New York, knallblau, eisig und wolkenlos. Untergebracht im roten Ziegelbau einer früheren Primarschule, ist das PS1 heute ein teuer renovierter Altbau, die düstere Schulatmosphäre ist in Hipness verwandelt. In den ehemaligen Klassenzimmern sind nun Kunstwerke untergebracht. Gedankenverloren öffne ich eine der altmodischen Türen im obersten Stock und trete in einen kleinen, überraschend kalten und sehr hellen Raum. Offenbar ist hier die Heizung ausgefallen. Der Raum ist leer, aber an den vier Wänden sind Bänke installiert. Dann sehe ich es: Das Werk hängt an der Decke. Eine leuchtende Deckeninstallation, die scharfes, klares Tageslicht verbreitet. Die frische Kühle des Raums und das leuchtende Deckenbild sind angenehm ruhig. Ich setze mich und ruhe mich aus, starre auf die Bänke mir gegenüber, und warte darauf, dass mir zu kalt wird. Plötzlich bewegt sich etwas in der Installation an der Decke. Ein Vogel fliegt durch das Bild. Jetzt kapiere ich es: Ich sehe direkt in den Himmel.

Alles ändert sich: Der Raum ist nicht ungeheizt, sondern gar kein Raum. Ich bin nicht mehr im Gebäude, sondern unter freiem Himmel. Das Licht ist nicht Teil einer raffinierten Installation, sondern der harte Sonnenschein des New Yorker Vorfrühlings. Ich sehe Vögel und Flugzeuge, keinen Dunst, keine Wolke. Ich spüre, was ich sonst nie spüre: die Luft selbst. Ich sehe das klare Blau der Atmosphäre, bemerke die jahreszeitliche Kälte und beginne zu frieren. Die Luft riecht. Es ist Stadtluft, ein leichter Meeresdunst, etwas Benzin, zarte Noten von Frittierfett, verbranntem Plastik und Asphalt. Ich höre das Rauschen des Stadtlärms, den Verkehr, Stimmen, irgendwo tönt Rap. Nach einiger Zeit kommen andere Leute dazu. Erst starren sie mich verwundert an, dann dämmert es auch ihnen. Wir sitzen uns gegenüber, schauen uns an und lachen. Manche machen Selfies. Man kommt schnell ins Gespräch hier. Eine Gemeinschaft entsteht, die eine Atmosphäre miteinander teilt: das Kalte, Klare der Witterung, den Witz des Überraschungseffekts, das Heitere der Versenkung in einen Gegenstand, den wir betrachten, als wäre es das erste Mal. Eine Gemeinschaft der Staunenden und Luftguckerinnen.

James Turrells Installation Meeting (1986) ist eine der ersten in seiner Serie Skyspaces: Räume mit einer Öffnung zum Himmel, die das Licht, die Luft, das Wetter als Kunst sicht- und spürbar machen. Turrells Trick ist so einfach wie genial: ein Raum, der den Himmel einrahmt wie ein Kunstwerk. Einander gegenübersitzende Schauende, die auf das hingewiesen werden, was ihnen allen gemeinsam ist, der Himmel über ihren Köpfen, die Luft, in der sie leben. Wer trifft hier wen in dieser Versammlung? Treffen Menschen auf andere Menschen, um gemeinsam wahrzunehmen, was der stumme Hintergrund ihrer Existenz ist: die Atmosphäre der Erde? Oder ist es eine Begegnung von Mensch und Luft, eines Lebewesens mit dem Medium des Lebens? Was genau zeigt das Werk eigentlich? Luft? Klima? Den Himmel? Die Atmosphäre oder eine Atmosphäre? Wetter? Es zeigt vor allem, dass wir diese Begriffe, die doch so Unterschiedliches zu bezeichnen scheinen, in der Sache und in unserer Wahrnehmung kaum voneinander trennen können.

Was ist Klima? Wir sprechen zwar ständig davon, meinen allerdings fast immer Klimawandel als politisches Problem. Wir sprechen über Luft, aber entweder im Kontext von Luftverschmutzung – oder wenn wir uns auf etwas beziehen, das keine Präsenz für uns hat: Jemand ist »Luft für uns«, etwas »hat sich in Luft aufgelöst«, ist »aus der Luft gegriffen« oder nichts als »heiße Luft«. Luft ist ein Synonym für Substanzlosigkeit, für eine Leere zwischen den Dingen, eine Metapher für Absenz. Kaum besser geht es dem Wetter: Einst verdammt als Thema inhaltsfreier Konversation, kommt man heute sofort vom Wetter auf die globale Erwärmung, untypische Jahreszeiten oder inadäquate Garderobe: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung.«

Aber über Klima als solches zu sprechen ist schwierig. Wann immer ich in den letzten Jahren von meinem Buch über Klima erzählte, missverstand es mein Gegenüber zuerst als Buch über den Klimawandel. In gewisser Weise reduzieren wir Klima heute auf Klimawandel, politische Debatten oder ein Kürzel für eine düstere Zukunft. »Klima« als Begriff ist vor allem Bestandteil umkämpfter Schlagworte wie »Klimaschutz«, »Klimakollaps« oder »Klimakleber« und bringt so immer schon eine politische Positionierung mit sich. Auf der anderen Seite, vermeintlich jenseits aller Politik, sind Klima, Luft und die Atmosphäre Gegenstände hochspezialisierter Wissenschaften, von der Meteorologie über die Ozeanografie, Geologie, Geografie bis zur Atmosphärenphysik und -chemie oder auch der Lungenmedizin, wenn es um Luftverschmutzung geht. Mit menschlicher Erfahrung aber, mit Gerüchen, sozialen Beziehungen, kulturellen Gepflogenheiten, Gefühlen, Körpern, Alltagspraktiken, Kleidung oder Architektur hat dieser Begriff von Klima fast nichts zu tun. Klima ist etwas Abstraktes, das uns eher durch Grafiken zugänglich wird als durch einen kühlen, strahlenden Märztag. Wenn überhaupt, empfinden wir Klima vor allem dann, wenn wir in fremde Lüfte geraten.

Warum das so ist, zeigt sich schon in der aktuellen naturwissenschaftlichen Definition von Klima nach der Weltorganisation für Meteorologie (WMO): »Klima im engeren Sinne wird definiert als ›durchschnittliches Wetter‹, oder – strenger genommen – als die statistische Beschreibung der Mittelwerte und Variationen von relevanten Größen über einen Zeitraum, der von Monaten bis Tausenden und Millionen von Jahren reichen kann. Der klassische Betrachtungszeitraum ist dreißig Jahre, wie die WMO festgelegt hat. Die relevanten Größen sind zumeist Variablen wie Lufttemperatur, Niederschläge und Wind. In einem weiter gefassten Sinn ist Klima der Zustand und die statistische Beschreibung des Klimasystems.«

Diese Definition ist so kompliziert wie kontraintuitiv. Wir nehmen Witterungen ja nicht als Durchschnitte wahr, sondern als akute Kältewellen, Unwetter, erschlagende Hitze oder auch wochenlang gedrückte Stimmung unterm Winterhimmel – also als Ereignisse oder Zustände. Durchschnitte bilden höchstens den lokalen und jahreszeitlichen Horizont für das erwartbare Wetter. Diese ohnehin schon recht abstrakte Idee vom erwartbaren Wetter wird hier aber noch um eine Perspektive in Zeiträumen jenseits jeder menschlichen Erfahrung erweitert. Eine Generation ist nur ihr kleinstes Zeitmaß. Die Klimata ferner Erdzeitalter sind uns kaum vorstellbar – und damit auch ziemlich egal.

Während wir Klima lebensweltlich mit Erfahrungen und Erwartungen an einem gegebenen Ort verbinden, geht es in der Definition der WMO um ein globales System – und zwar eines, das noch aus weit mehr als durchschnittlichem Wetter besteht: aus der hochkomplexen Interaktion von Atmosphäre, Meeren, Eis, Festland und Biosphäre. Klima ist ein Zustand des Erdsystems, beobachtbar in langen, Menschenzeit weit übersteigenden Zeiträumen und aus einer den gesamten Planeten umfassenden, also »ortlosen« Perspektive. Es kann gemessen, berechnet, modelliert und simuliert werden – aber nicht mit menschlichen Sinnen wahrgenommen. Auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand der Dinge ist Natur kaum sinnlich erfahrbar, auch wenn wir noch immer durch Landschaften laufen, übers Wetter schimpfen, Tieren begegnen oder krank werden. Erfahren können wir Witterungen, aber weder das globale Klima noch den Klimawandel; erleben können wir die Begegnung mit bestimmten Spezies, aber weder ihre ökologische Funktion noch ihr allmähliches Verschwinden; spürbar ist der Ausbruch einer Krankheit, nicht aber die winzigen Erreger, die ihn verursachen.

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