Die alte populäre Öffentlichkeit
Die kulturellen Hierarchien eines sich wandelnden Buchmarkts von Daniel Ehrmann, Erika ThomallaDie kulturellen Hierarchien eines sich wandelnden Buchmarkts
Anlässlich seiner Auszeichnung mit dem erstmals ausgelobten Friedrich-Perthes-Preis am 5. Juni 2025 ließ der Literaturkritiker Denis Scheck seiner Wut über eine »Hirnpest in Buchform« freien Lauf. Gemeint waren Romane, die »unter dem Rubrum Romantasy und New Adult die Regale unserer Buchhandlungen« verstopfen würden. Der Preis wurde eingerichtet, um den Einsatz von Personen und Organisationen für die Buchbranche zu ehren. Und für Denis Scheck besteht dieser Einsatz seit einiger Zeit im Kampf gegen etwas, das er als neue Form der Schundliteratur begreift: »strunzdumme militaristische Drachenpornos«, wie sie etwa die amerikanische Autorin Rebecca Yarros mit ihrer Empyrean-Reihe verfasse.
Es sind erregte Einlassungen wie diese, die den Buch- und Literaturwissenschaftler Gerhard Lauer dazu veranlasst haben, einen gegenwärtigen »Strukturwandel« der literarischen Öffentlichkeit zu konstatieren. Dass sich Literaturkritiker wie Scheck überhaupt mit Büchern auseinandersetzen, die »ohne autonomieästhetischen Anspruch« oder eine »Anbindung an künstlerische Traditionen« auskommen, ist für Lauer ein Indiz, dass sich traditionelle Hierarchien in der kulturellen Sphäre verschoben haben oder sogar verloren gegangen sind. Unter dem wachsenden Einfluss einer dank BookTok international vernetzten, überwiegend weiblichen Laien-Leserschaft würden etablierte Akteure und Institutionen im Betrieb an Bedeutung verlieren. Die »neue« Öffentlichkeit sei zwar maximal inklusiv, büße allerdings gleichzeitig an »gesamtgesellschaftlicher Repräsentativität« ein. Aus dem schnellen Wechsel der Vorlieben für bestimmte »Cores« – also ästhetische Subkategorien auf BookTok wie Dark Academia, Forestcore oder Cozycore – würden keine sozialen Verbindlichkeiten entstehen.
Lauers Beitrag ist erkennbar darum bemüht, reflexhafte Deutungsmuster und kulturkritische Krisennarrative zu vermeiden – was ihm prompt den Vorwurf der »Selbstverleugnung« eingebracht hat. Immerhin gehe es, wie Jan Wiele in einer Replik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung betont hat, bei der Debatte auch um das Fortbestehen der professionellen Literaturkritik und um die Gültigkeit der von ihr gefällten Urteile. So dramatisch sieht Lauer die Lage nicht. Vor allem verstehe man gegenwärtig »Sinn und Bedeutung dieses Kulturwandels noch unzureichend«, wie er in seiner Entgegnung zu präzisieren versuchte. Dass aber die Debatte um New Adult und andere populäre Genres nicht zuletzt mit der Sorge männlicher Literaturkritiker vor dem Verlust ihrer Gatekeeper-Position zusammenhängen könnte, hat er ebenso im Blick wie den Umstand, dass bestimmte Formen der literarischen Fankultur auch schon in den 1920er Jahren existierten oder dass Debatten um den Niveauverlust der Literatur bereits mit der Einführung der Spiegel-Bestsellerliste in den 1960er Jahren geführt wurden. Warum spricht Lauer dann trotzdem von einer »neuen« literarischen Öffentlichkeit – und hat er Recht, wenn er den Verlust bisheriger Hierarchien und Verbindlichkeiten beklagt?
Die These vom alten und neuen Strukturwandel
Offensichtlich beruht Lauers These vom Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit auf einer an Jürgen Habermas angelehnten Konzeption bürgerlicher Öffentlichkeit. Habermas hatte 1962 in seiner Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit beschrieben, wie die repräsentative Öffentlichkeit, die die höfische Welt der Vormoderne auszeichnete, seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch eine städtische, bürgerliche Öffentlichkeit abgelöst wurde. Subjekt dieser bürgerlichen Öffentlichkeit war ein »zum öffentlichen Gebrauch des Verstandes erzogenes« räsonierendes Publikum. Dessen wichtigste Medien und Institutionen – etwa Salons, literarische Zeitschriften und Tischgesellschaften – trugen zur Ausbildung eines kritischen Diskurses auch über Politisches bei. Mit dem allmählichen Bedeutungsverlust dieser Institutionen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem aber mit der Kommerzialisierung der Presse und insbesondere mit dem Aufkommen des Fernsehens vollzog sich laut Habermas eine Transformation, die das »kritische« und politisch agierende Publikum in »eine große Masse von öffentlich rezipierenden Konsumenten« verwandelt habe. Es ist, wie nicht unüblich im Kontext der Frankfurter Schule, eine Mischung aus Kapitalismuskritik und Skepsis gegenüber den neuen Massenmedien, die diese pessimistische Diagnose in den 1960er Jahren begründete. Der kritisch-publizistischen Öffentlichkeit der bürgerlichen Privatleute, die sich auf der Basis von Printmedien herausgebildet hatte, wurde eine vermachtete Öffentlichkeit gegenübergestellt, die sich durch das Fernsehen und die Konzentration von Medienkonzernen herausgebildet habe.
In dem 2022 erschienenen Essay Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Habermas seine Thesen mit Blick auf die digitale Kommunikationskultur nochmals aktualisiert. Auch wenn er die Chancen der Digitalisierung im Hinblick auf die schnelle Verbreitung von Informationen durchaus anerkennt, dominiert auch hier die Warnung vor Manipulation und sozialer Fragmentierung durch die Bildung unterschiedlicher und insbesondere voneinander isolierter Teilöffentlichkeiten: Der »Plattformcharakter der neuen Medien« fördere Tendenzen zur Entgrenzung und zur Fragmentierung der Öffentlichkeit, die bereits zuvor latent bestanden haben sollen.
Diese von Habermas konstatierte Verschiebung wirft ein erhellendes Licht auch auf die begrenzten Partizipationsmöglichkeiten in seiner früheren Konzeption bürgerlicher Öffentlichkeit. Denn diese bestand essenziell in einer »redaktionellen Öffentlichkeit«, die in der nicht nur technologisch, sondern auch textkulturell veränderten Gegenwart durch die Etablierung eines Kommunikationsraums unter Druck gerät, »worin Leser, Hörer und Zuschauer spontan die Rolle von Autoren ergreifen können«. Die etwas freimütige Anwendung des Autorenbegriffs verflacht hier zwar den Unterschied zwischen öffentlichen Äußerungen in den sozialen Medien auf der einen und der Reklamation sowie Anerkennung von Autorschaft als besonderer Diskursfunktion auf der anderen Seite, der insbesondere im Bereich der Literatur effektive symbolische Hierarchien pflegt. Deutlich problematisiert, wenn nicht perhorresziert Habermas aber die zunehmende Ablösung redaktionell kuratierter Inhalte durch einen nur schwach reglementierten Diskurs, dem er aufgrund seiner Partikularisierungstendenz auch nur noch »halböffentlichen, fragmentierten« Status zuerkennt.
In dieser Diagnose lässt sich eine bezeichnende Überkreuzung ausmachen, die auch den wiederkehrenden Debatten über Veränderung und Verfall der Gegenwartskultur nicht fremd ist: Die Vermehrung der aktiven Diskursteilnehmer führt demnach zu sozialer Fragmentierung, zur Verminderung von sozialer Repräsentation und eines gemeinsamen »Hintergrundkonsenses«. Dass die Demokratisierung des Diskurses die öffentliche Meinung, die es ohnehin nie im Singular gab, weiter pluralisiert und damit ausgerechnet einen wesentlichen Aspekt demokratischer Entscheidungsfindung weiter entkräftet, ist ein evidentes politisches Problem. Mindestens ebenso sichtbar sind die Auswirkungen im Bereich des Ästhetischen. Und das nicht unbedingt, weil die Wertungskriterien, für die Literaturkritik und -wissenschaft eintreten, nicht mehr stabil sind – wobei es hier ohnehin gewagt wäre, einen Konsens zu unterstellen. Entscheidend ist vielmehr, dass heute mehr denn je erkennbar wird, dass es sich immer um die Hierarchien einer kleinen kulturellen Elite gehandelt hat – und dass dieser Umstand verstärkt kritisch reflektiert wird. Wer die Sortierung in Kunst und Kommerz, Avantgarde und Kitsch treffen darf, welche Rolle populärer Erfolg dabei spielt und an welchen medialen Orten darüber entschieden wird, sind virulente Fragen, die über das Tagesgeschäft der Literaturkritik hinaus die aktuell verunsicherten Prinzipien sozialer Ordnung betreffen.