»Die DDR hat’s nie gegeben«
Leerstellen in der aktuellen Erinnerungsdebatte von Norman Aselmeyer, Stefan Jehne, Yves MüllerLeerstellen in der aktuellen Erinnerungsdebatte
Im Frühjahr 2020 fand sich Achille Mbembe überraschend im Mittelpunkt einer explosiven Debatte wieder. Dem Kameruner Historiker und postkolonialen Vordenker, der für den Eröffnungsvortrag auf der Ruhrtriennale eingeladen war, wurde vorgeworfen, den Holocaust relativiert zu haben. In den deutschen Feuilletons nahm ein handfester Streit seinen Anfang, der sich weniger um Mbembe selbst und sein Werk drehte, als das Verhältnis von Holocaust-Erinnerung und postkolonialem Gedächtnis neu zu vermessen. Diese Auseinandersetzung, so zeigte zuletzt der Skandal um antisemitische Bilder bei der documenta fifteen, hält weiterhin an.
Seit dem vergangenen Jahr entzündet sich eine Kontroverse bisher unbekannten Ausmaßes – von manchen bereits als »Historikerstreit 2.0« bezeichnet – an einer Polemik des australischen Genozidforschers A. Dirk Moses. Diese lief im Wesentlichen auf den Vorwurf hinaus, dass in Deutschland ein hegemoniales, quasireligiöses Gedenken an die Schoah vorherrsche, das eine adäquate Erinnerung an andere Massengewalt und Genozide und damit auch an die europäischen Kolonialverbrechen verhindere. In dem kurze Zeit später im Merkur ausgetragenen Disput zwischen dem Globalhistoriker Sebastian Conrad und dem Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel ging es, wenn auch unter anderen Vorzeichen, ebenfalls um die Frage nach der angemessenen Gewichtung von Kolonialismus und Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur.
Nun ist der Impetus, hegemoniale Erinnerungsdiskurse und Herrschaftsnarrative zu hinterfragen, der sich in diesen Debatten Bahn bricht, natürlich grundsätzlich legitim. Problematisch erscheint uns allerdings die damit über die Parteiungen hinweg verbundene Zuversicht, die Komplexität, Diversität und Wandelbarkeit der Memorialkulturen hierzulande lasse sich über den eher schlichten Kollektivsingular der »deutschen Erinnerungskultur« analytisch angemessen fassen. Und das umso mehr, als der räumlich-singuläre Zuschnitt des Begriffs, der sich allein auf Westdeutschland bezieht, höchst selten hinterfragt wird. In so gut wie allen Beiträgen fallen die DDR und die neuen Bundesländer aus dem Blick heraus. »Die DDR hat’s nie gegeben.« So war es 2008 in kapitalen weißen Lettern an das Fundament des gerade abgerissenen Palasts der Republik geschrieben worden. Heute steht dort das Humboldt-Forum, dessen Fassade das Berliner Schloss nachbildet, einst Residenz der preußischen Könige und deutschen Kaiser.
Mit diesem geschichtspolitischen Einwurf ist es wie mit der Erinnerungskultur und eben auch dem aktuell geführten »Historikerstreit 2.0«: Dass es neben der westdeutschen auch eine ostdeutsche Erinnerung gegeben haben könnte, wird selten wahr-, noch seltener ernstgenommen. Neben der westdeutschen »Normalgeschichte« hat die DDR nur als überwundenes Interregnum Platz auf dem Trümmerhaufen der Geschichte. Dabei leben wir nicht nur in einer postnationalsozialistischen und postkolonialen Gesellschaft, sondern ebenso in einer postsozialistischen. Jenseits der vermeintlichen Dichotomie zwischen den Erinnerungen an die postkolonialen und postnationalsozialistischen Vergangenheiten existiert ein sozialistisches Erbe in Deutschland, das nicht nur unverbunden neben den beiden anderen Erinnerungskulturen steht, sondern die beiden Ersteren auch nachhaltig prägt. So ließe sich der Begriff der »Kotransformation« (Philipp Ther) auch auf die gebrochenen Erinnerungskulturen hierzulande anwenden.
Conrad benennt die DDR immerhin als Mitfahrende im erinnerungspolitischen Karussell. Doch verlässt er – wie die meisten anderen – die bundesrepublikanische Plattform nicht, von der aus er sein Erinnerungsmodell aufbaut. Ohne jeden kritischen »Turn« kann er von einem erinnerungskulturellen »Transfer von West nach Ost« im Rahmen eines »Strukturanpassungsprogramms« sprechen. Diese Sichtweise kritisiert auch Schulze Wessel, weil die von Conrad postulierte »Angleichung der ostmitteleuropäischen Erinnerungskulturen an die deutschen und westeuropäischen Muster« so nicht stattgefunden habe. Schließlich entwickelte sich »neben der Holocaust-Erinnerung der Gulag« zu einem »Symbol der antitotalitären Erinnerung«, so Schulze Wessel – ohne die DDR auch nur mit einem Wort zu erwähnen. In seiner Antwort auf Schulze Wessels Replik reflektiert Conrad in Bezug auf die DDR immerhin, dass deren Erinnerungsgeschichte »angesichts der Verve der NS-versus-Kolonialismus-Diskussion aus dem Blick geraten« sei. Die westdeutsche Diskursreferenz aber bleibt bestehen.
Man muss kein DDR-Apologet sein, um zu begreifen, dass die gegenwärtige Erinnerungsdebatte in ihren Verschränkungen und Verrenkungen ohne Einbeziehung einer deutsch-deutschen Perspektive kaum erschöpfend analysiert werden kann. Es wäre daher dringend ein wenig mehr »critical westness« seitens der bis heute westdeutsch dominierten Historikergilde gefragt, eine Sensibilität für die eigene Sprecherposition statt der fortlaufenden Setzung der westdeutschen Erfahrung als Norm. Anstelle einer Globalisierung des Erinnerns und einer »Entprovinzialisierung deutscher Geschichte« (Jürgen Zimmerer) bedarf die aktuelle Debatte einer Reprovinzialisierung deutsch-deutscher Erinnerungsgeschichte. Mit dieser Neuperspektivierung wird dann auch deutlich, dass in der DDR die koloniale Vergangenheit keineswegs in Konkurrenz zur Erinnerung an die Schoah stand. Ein zweifaches Gedenken war also nicht ausgeschlossen, obgleich es überlagert war von den ideologischen Prämissen des Antifaschismus. Darüber hinaus führte das Ende der DDR zu einer spezifisch ostdeutschen Gedenklandschaft, die in der laufenden Debatte um die deutsche »Vergangenheitspolitik« nivelliert wird.
Schoah und Antifaschismus im »zweiten« deutschen Staat
Das »master narrative« der DDR basierte auf dem Gedanken, mit dem Nationalsozialismus endgültig und unwiderruflich gebrochen zu haben und auf dem Weg zu sein, ein sozialistisches, ein »besseres Deutschland« aufzubauen. Fortan standen die Ostdeutschen auf der Seite der »Sieger der Geschichte«. Früh wurde die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und an den Widerstand kanonisiert, der Antifaschismus als Staatsdoktrin etabliert. Das Gedenken an die Widerstandskämpfer war ein zentraler Legitimationsstrang der DDR. In dieser Diktion führte der, allerdings erfolglose, Widerstand linear zur Gründung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden – nicht die alliierten Armeen, die das Regime erst militärisch niederringen mussten. Damit diente die DDR-Erinnerungskultur keineswegs nur dem Gedenken an den antifaschistischen Widerstand, der in dieser teleologischen Perspektivierung allerdings zur bloßen DDR-Vorgeschichte zu verkommen drohte, sondern verstand sich als in die Zukunft gerichtete Manifestation der eigenen moralischen Überlegenheit. Es sollten vorbildstiftende Helden geschaffen werden, die als »Kämpfer gegen den Faschismus« zu ehren waren. Die Erinnerung sollte fast ausschließlich kommunistischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern zuteilwerden, während alle anderen lange Zeit über nur dann geehrt wurden, wenn sie sich dem kommunistischen Widerstand angeschlossen hatten.
Die Behandlung der Schoah in der DDR musste unter dem Primat der kommunistischen Anschauung der »jüdischen Frage« aus der Klassenkampfperspektive interpretiert werden. Der Antisemitismus werde sich demzufolge mit dem Ende des Kapitalismus von selbst erledigen – womit das Recht von Jüdinnen und Juden auf einen eigenen Staat ab 1948 konsequent negiert wurde. Zudem wurde der Holocaust zwar nicht ignoriert, aber unter die gängige Faschismusinterpretation subsumiert.