Heft 880, September 2022

»Die DDR hat’s nie gegeben«

Leerstellen in der aktuellen Erinnerungsdebatte von Norman Aselmeyer, Stefan Jehne, Yves Müller

Leerstellen in der aktuellen Erinnerungsdebatte

Im Frühjahr 2020 fand sich Achille Mbembe überraschend im Mittelpunkt einer explosiven Debatte wieder. Dem Kameruner Historiker und postkolonialen Vordenker, der für den Eröffnungsvortrag auf der Ruhrtriennale eingeladen war, wurde vorgeworfen, den Holocaust relativiert zu haben. In den deutschen Feuilletons nahm ein handfester Streit seinen Anfang, der sich weniger um Mbembe selbst und sein Werk drehte, als das Verhältnis von Holocaust-Erinnerung und postkolonialem Gedächtnis neu zu vermessen. Diese Auseinandersetzung, so zeigte zuletzt der Skandal um antisemitische Bilder bei der documenta fifteen, hält weiterhin an.

Seit dem vergangenen Jahr entzündet sich eine Kontroverse bisher unbekannten Ausmaßes – von manchen bereits als »Historikerstreit 2.0« bezeichnet – an einer Polemik des australischen Genozidforschers A. Dirk Moses. Diese lief im Wesentlichen auf den Vorwurf hinaus, dass in Deutschland ein hegemoniales, quasireligiöses Gedenken an die Schoah vorherrsche, das eine adäquate Erinnerung an andere Massengewalt und Genozide und damit auch an die europäischen Kolonialverbrechen verhindere.1 In dem kurze Zeit später im Merkur ausgetragenen Disput zwischen dem Globalhistoriker Sebastian Conrad und dem Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel ging es, wenn auch unter anderen Vorzeichen, ebenfalls um die Frage nach der angemessenen Gewichtung von Kolonialismus und Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur.2

Nun ist der Impetus, hegemoniale Erinnerungsdiskurse und Herrschaftsnarrative zu hinterfragen, der sich in diesen Debatten Bahn bricht, natürlich grundsätzlich legitim. Problematisch erscheint uns allerdings die damit über die Parteiungen hinweg verbundene Zuversicht, die Komplexität, Diversität und Wandelbarkeit der Memorialkulturen hierzulande lasse sich über den eher schlichten Kollektivsingular der »deutschen Erinnerungskultur« analytisch angemessen fassen. Und das umso mehr, als der räumlich-singuläre Zuschnitt des Begriffs, der sich allein auf Westdeutschland bezieht, höchst selten hinterfragt wird. In so gut wie allen Beiträgen fallen die DDR und die neuen Bundesländer aus dem Blick heraus. »Die DDR hat’s nie gegeben.« So war es 2008 in kapitalen weißen Lettern an das Fundament des gerade abgerissenen Palasts der Republik geschrieben worden. Heute steht dort das Humboldt-Forum, dessen Fassade das Berliner Schloss nachbildet, einst Residenz der preußischen Könige und deutschen Kaiser.

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