Heft 868, September 2021

Die einen nennen es Embargo …

Das kubanische Modell von Tony Wood

Das kubanische Modell

Am 16. April 2021 trat Raúl Castro als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas zurück. Die Berichterstattung konzentrierte sich auf die Tatsache, dass nun von den höchsten politischen Ämtern der Insel keines mehr von einem Castro besetzt war – zum ersten Mal seit mehr als sechzig Jahren. Und ein Generationswechsel ist es tatsächlich: Der derzeitige Präsident und erste Sekretär der Partei, Miguel Díaz-Canel, dem Raúl bereits drei Jahre zuvor die Regierungsgeschäfte übergeben hatte, war zum Zeitpunkt der Revolution 1959 noch nicht einmal geboren. Bald wird das System, das die »Bewegung des 26. Juli« unter Fidel Castro errichtet hatte, seine Gründer überdauert haben.

Mit seiner Langlebigkeit hat dieses System alle Prophezeiungen, sein Untergang stünde unmittelbar bevor, Lügen gestraft. Man sollte meinen, dass sich damit auch das hartnäckige Image, es handele sich hier um ein Relikt aus dem Kalten Krieg, allmählich erledigt hätte. Immerhin ist die Zeitspanne von 1989 bis heute inzwischen größer als diejenige, in der das eigenartige staatssozialistische Modell während des Kalten Krieges existierte. Und dennoch hält sich beharrlich das Bild von einem Kuba, das in einer vergangenen Epoche feststeckt. Für Außenstehende verzerrt dies den Blick auf einen Staat, der sich während der ganzen Zeit verändert hat, wenn auch in seinem eigenen Tempo.

Die jüngere kubanische Geschichte ist ein Thema, das polarisiert. Schon die Wahl der Worte kommt dabei einer politischen Stellungnahme gleich. Was die meisten Menschen in den USA als »Embargo« bezeichnen, womit sie die weitreichenden Handelsbeschränkungen meinen, die 1960 erstmals verhängt und seitdem immer wieder verschärft wurden, wird in Kuba »el bloqueo« genannt: »die Blockade«. Der eine Begriff suggeriert gezielte Beschränkungen des Handels; der andere impliziert einen umfassenden Wirtschaftskrieg. Dasselbe gilt für das Wort »Revolution«: Für die einen ist es ein einzelnes Ereignis, das 1959 stattfand; für die Befürworter des kubanischen Modells ist es ein sich nach wie vor entfaltender Prozess. Es hat mitunter den Anschein, als lebten die Kommentatoren in Bezug auf Kuba je nach politischer Couleur in gänzlich unterschiedlichen Paralleluniversen.

The Cubans zeichnet die Lebensgeschichten von Menschen in Guanabacoa nach, einer Stadt auf der der Hauptstadt gegenüberliegenden Seite der Bucht von Havanna. Anthony DePalma, langjähriger Korrespondent der New York Times, beschreibt die realen Errungenschaften, die seine Interviewpartner nach der Revolution zum Teil gemacht haben, aber auch die Frustrationen und Unzufriedenheiten, die ihr heutiges Leben prägen. Zu seinen Gesprächspartnern zählen Caridad Ewen, eine afrokubanische Frau aus dem armen, ländlichen Osten der Insel, die schließlich Vizeministerin für Handel wurde; ihr Sohn Oscar Matienzo, der zu der neuen Generation kubanischer Geschäftsleute gehört; Arturo Montoto, ein regimekritischer Maler, der ins Exil ging, aber wegen des außergewöhnlichen Lichts nach Kuba zurückkehrte; und Jorge García, der zu einem unerbittlichen Kritiker des Regimes wurde, nachdem die kubanische Küstenwache ein Boot versenkt hatte, das zwei seiner Kinder in die Vereinigten Staaten bringen sollte. Die Migration, insbesondere nach Florida, ist ein zentrales Thema in DePalmas Geschichten und im Leben kubanischer Familien auf der ganzen Insel.

Das Buch basiert auf stundenlangen Interviews und jahrelanger Recherche. Und doch kann man es weder als Journalismus bezeichnen noch als oral history: Der Text berichtet streckenweise aus der Perspektive des allwissenden Erzählers, wie man das von Romanen kennt, und blickt so mit den Augen der Protagonisten auf das Geschehen. Dabei ist nicht immer klar, wessen Gedanken und Meinungen wir gerade lesen. Ein oder zwei von DePalmas Protagonisten bleiben der Revolution treu, aber die Geschichte, die er erzählt, ist überwiegend eine der Enttäuschung. Dieses Gefühl verdankt sich zum Großteil den Entbehrungen der 1990er Jahre, einer Zeit, die von der kubanischen Regierung als »Sonderperiode« bezeichnet wird.

Die Perestroika und der Zusammenbruch der UDSSR beraubten Kuba seiner Haupteinnahmequelle: Die Sowjets hatten das Dreifache des Marktpreises für Zucker gezahlt, der 80 Prozent der Exporte der Insel ausmachte. Es folgten Treibstoffknappheit und Rationierungen. Die USA begannen, die politische und wirtschaftliche Schlinge enger zu ziehen, und verschärften das Embargo mit dem Cuban Democracy Act von 1992 und dem Helms-Burton Act von 1996. Die Apotheken waren nicht mehr in der Lage, lebenswichtige Medikamente vorrätig zu halten, Hunger und Unterernährung griffen um sich. Jede Form von Abfall wurde recycelt oder wiederverwendet: Mahlzeiten wurden aus gebratenen Grapefruitschalen oder Bananenschalen zubereitet. Bis heute verwenden die Kubaner bei allen möglichen Gelegenheiten die Wörter luchar (kämpfen) und resolver (ein Problem lösen, soll heißen: sich das Nötige beschaffen).

In DePalmas Augen hat nur der Einfallsreichtum der kubanischen Bevölkerung das Überleben des Systems ermöglicht. Dieser Einfallsreichtum entpuppt sich in seinen Augen allerdings zugleich als »lähmende Schwäche«. »Anstatt zur Plaza de la Revolución zu marschieren und Veränderungen zu fordern oder gemeinsam mit Dissidenten etwas gegen die finsteren Realitäten zu unternehmen«, schreibt DePalma, »nehmen die meisten Kubaner die immer neuen Entbehrungen einfach so hin und passen sich an.« Der kubanische Staat erscheint hier implizit als ein unveränderlicher Monolith, wie jene, die 1989 in Osteuropa gestürzt wurden. DePalmas Ansicht, ein Regimewechsel würde Kuba »wieder in Ordnung bringen«, ist in den USA weit verbreitet, aber am Ende seines Buchs lässt er durchscheinen, dass es auch persönliche Gründe für seine Denkweise gibt: Er ist mit einer Exilkubanerin verheiratet, deren Familie kurz nach der Revolution auswanderte.

Als Erklärung für das Überleben des kubanischen Modells greift DePalmas Paradigma – ein unterdrückerisches Regime steht einem unterworfenen, aber passiven Volk gegenüber – aus demselben Grund zu kurz wie so viele Narrative aus der Zeit des Kalten Kriegs: Es krankt daran, dass es dem Staat nicht die geringste Form von Legitimität zuzugestehen, geschweige denn ihm überhaupt besondere Aufmerksamkeit zu schenken bereit ist. DePalma gibt unumwunden zu, dass er für seine Darstellung »keinerlei Kontakt mit irgendwelchen Regierungsbeamten hatte«. Er unternimmt noch nicht einmal den Versuch zu verstehen, wie das System tatsächlich funktioniert.