Die Entstehungsgeschichte von Edward Saids »Orientalismus«
von Timothy BrennanEdward Saids Orientalismus ist schon lange ein akademischer Klassiker. Als die englische Originalausgabe 1978 bei Pantheon Books in New York erschien, war die große Resonanz, auf die es stoßen sollte, allerdings nicht ansatzweise abzusehen. Das Buch beginnt mit einem krassen Schwenk über die im Bürgerkrieg ausgebrannte Architektur der Altstadt Beiruts. Daran schließt sich ein Exkurs über die Geschichte einer obskuren akademischen Disziplin aus der Zeit der Romantik an. Die Kapitel springen von der Literatur des 19. Jahrhunderts über die opera buffa des Medienbetriebs der Vereinigten Staaten zu den üblen Machenschaften von Henry Kissinger. Wer noch nie etwas von Said gelesen hatte und nicht vertraut war mit den Schriften des Historikers William Appleman Williams über das Empire als »a way of life« oder auch mit der Dichtung von Lamartine, den musste die Auswahl der Quellen verwirren oder gar überfordern. Die eine Hälfte der Philologen und Historiker, deren Urteile über den Erfolg des Buches entschieden, sah in dem Buch einen Triumph der Wissenschaft, die andere empfand es als Skandal – niemand aber konnte es einfach ignorieren.
Dass hier eine Anklageschrift gegen die englische und französische Erforschung der arabischen und islamischen Welt vorlag, machte Orientalismus hinreichend deutlich. Das Feld der Orientalistik, so lautete der zentrale Vorwurf, hatte es geschafft, ein fantasievoll ausgestaltetes Bild von Arabern und vom Islam zu schaffen, das sich lückenlos in die Vorurteile des westlichen Publikums fügte. Manchmal waren diese Projektionen überschwänglich und berauschend, manchmal infantilisierend oder gehässig, aber nie beschrieben sie Araber und Muslime auf eine zutreffende Weise.
Über Jahrhunderte hinweg formten diese Bilder und Einstellungen ein Netz aus sich gegenseitig verstärkenden Klischees, die sich in den Vorgehensweisen der Medien, der Kirche und der Universität widerspiegelten. Mit der Autorität der scheinbar objektiven Wissenschaft gesellten sich neue Vorurteile zu denen, die bereits im Umlauf waren. Dieses beeindruckende Gebäude der Gelehrsamkeit, dessen Fundament letztlich aus kaum mehr bestand als einer Handvoll religiöser Schriften aus der Zeit des Mittelalters, verstellte schließlich jeden anderen Zugang zur arabischen Welt – sie war gefangen in den Klassikern ihrer eigenen Vergangenheit. Diese Beschreibung des Felds war noch der unstrittigste Punkt an Orientalismus. Darüber hinaus war sich die Kritik aber praktisch über nichts einig.
Bei der Abfassung seines ikonoklastischen Buchs kam Said seine Freundschaft mit Noam Chomsky zugute. Chomsky, dessen Bücher im gleichen Verlag erschienen, hatte wegen seiner politischen Invektiven reichlich Erfahrung mit schlechter Presse. Said verfolgte Chomskys Angriffe auf die akademischen Institutionen, denen er Komplizenschaft im Vietnamkrieg vorwarf, und er erwog vorübergehend, mit Chomsky gemeinsam ein Buch über fehlgeleitete kulturelle Darstellungen des Nahen Ostens zu schreiben. Da Chomsky sich aufgrund anderweitiger Verpflichtungen außerstande sah, etwas zu dem Projekt beizutragen, machte Said schließlich allein weiter. So entstand Orientalismus.
Der MIT-Linguist zeigte sich aber auf andere Weise behilflich. Er war der erste Leser von Saids Entwurf und verschlang das Manuskript, so schrieb er an Said, »praktisch in einem Zug«. Er bewunderte seine durchdringende analytische Schärfe, ermahnte Said aber, mehr auf »die Balance zwischen Analyse und direktem Zitat« zu achten. Er werde »nicht wenige« Leserinnen und Leser zu Kritik reizen, fügte Chomsky hinzu, und diese würden sich wahrscheinlich an dem relativen Mangel an Verweisen festbeißen. »Es könnte nützlich sein, etwas über das Thema Rassismus, Orientalismus und den Vietnamkrieg hinzuzufügen – ich denke, wir sprachen darüber.«
Der Großteil des ersten Entwurfs wurde, merkwürdig genug, am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford, Kalifornien, verfasst, dessen Fellow Said im Jahr 1975/76 war. Das Institut nahm eigentlich gar keine Geisteswissenschaftler auf, Said war der einzige in seinem Jahrgang. Für das Stipendium konnte man sich auch nicht selbst bewerben. Fellow wurde, wer zuvor von einer namenlosen Runde von Honoratioren aus der akademischen Masse herausgepickt worden war. Eines schönen Tages flatterte dann ein Einladungsschreiben ins Haus. Was sahen die Wissenschaftsphilosophen, Soziologen und Psychologen dieses erlesenen Kreises wohl in dem Literaturwissenschaftler Said?
Es scheint zwei Gründe für seine Einladung gegeben zu haben. Erstens wollte das Zentrum offenbar mehr über den Nahen Osten erfahren, und Saids erklärtes Ziel, »den Aufstieg der orientalischen Philologie als Disziplin« und »den zeitgenössischen arabischen Roman, insbesondere die kulturelle und politische Rolle des Romans« zu untersuchen, passte da gut ins Programm. Zweitens aber dürfte Saids komparatistischer Radikalismus im politisch progressiven Interregnum von Jimmy Carters Amerika – das die vielversprechendsten Öffnungen des Weißen Hauses für die Palästinensische Befreiungsorganisation mit sich brachte – auf die aufgeschlossenen kalifornischen Forscher durchaus auch per se anregend gewirkt haben.
Obwohl Said Freunden in England schrieb, dass er »das Center nicht sonderlich angenehm« fand, weckte das kalifornische Wetter bei ihm Erinnerungen an das östliche Mittelmeer, und es dauerte nicht lange, bis er ein libanesisches Restaurant in Berkeley ausfindig gemacht hatte. Mit seinem Temperament und seiner Umgänglichkeit war er für das gesellschaftliche Leben in der Institution wie geschaffen, wobei er offenbar vor allem zu den Frauen schnell ein vertrauensvolles Verhältnis fand. Jonathan R. Cole, der spätere Direktor der Columbia Universität, war zur gleichen Zeit vor Ort und erinnert sich, dass Said dort häufig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand und beim Mittagessen mit anderen in langen und lebhaften Unterhaltungen zu beobachten war.
Dass einer von Saids Co-Fellows in jenem Jahr ausgerechnet Yehoshafat Harkabi war, der frühere Leiter des israelischen Militärgeheimdiensts und ein renommierter israelischer Arabist, erscheint wie eine unheimliche Fügung. Hochkultiviert, ein Liebhaber arabischer Poesie, der in seiner stillen Zurückhaltung der Kunsthistorikerin Svetlana Alpers zufolge »etwas von einem Geheimagenten« hatte, bezeichnete Harkabi sich selbst als »machiavellistische Taube«. Manche befürchteten, das Duo könne sich als explosiv erweisen und einen Nahost-Stellvertreterkrieg in Stanford auslösen. Tatsächlich wahrten Said und Harkabi den Anstand und waren, wenn nicht herzlich, so doch meist höflich zueinander.