Die Erben des Silicon Valley
von Adrian DaubDie creatio ex nihilo, die Schöpfung aus dem Nichts, ist einer der Begriffe, bei denen man sofort misstrauisch aufhorcht. Wenn jemand so tut, als habe er etwas aus nichts geschaffen, ist das so gut wie immer ein Indiz dafür, dass eine inkommode Hintergrundgeschichte mehr oder weniger dezent aus dem Blickfeld geschoben werden soll. In der fantastischen Vorstellung, vor uns sei gar nichts da gewesen, steckt eine beträchtliche ideologische Kraft. Immerhin darf der Schöpfer ex nihilo für sich zumindest einen zarten Abglanz göttlicher Macht in Anspruch nehmen. Wertschöpfer, Schöpfer von Arbeitsplätzen werden mit diesem Kniff zu entfernten Verwandten des ganz großen Schöpfers, ihre Legende eine Art Genesis-Erzählung.
Dasselbe gilt für den Begriff der unberührten Erde, der terra nullius, der gerade im amerikanischen Westen immer schon zur Ideologie der Konquistadoren aller Sorten gehörte. Als die Tech-Industrie begann, sich in einem Landstrich Nordkaliforniens entlang der Bucht von San Francisco anzusiedeln, deutete sie das Land, das sie kolonisierte, zu einem Niemandsland um, das erst jetzt zum Schauplatz wirklich wertschöpfender Aktivitäten werde – einem Garten Eden mit ein paar Aprikosenhainen, einer einzigen Eisenbahntrasse und wenig anderem. Diese Art Pioniergeschichte ist im Silicon Valley mittlerweile ein allgegenwärtiger rhetorischer Trick: Vor uns war keiner da, vor uns hat keiner das Problem erkannt, vor uns hat keiner diese Lösung ausprobiert. Pioniergeist bedingt Amnesie und umgekehrt, und mit beidem kann das Silicon Valley zur Genüge aufwarten.
Hinterlassenschaften sind hier weniger wichtig als Zukünftigkeit. Dieses Selbstverständnis drückt sich nicht nur in der Architektur aus, die so tut, als sei nichts vor ihr dagewesen. Sondern auch in einer Industrie, die sich umweltbewusst gibt, deren umweltverschmutzende Anfänge – insbesondere in der Form des krebserregenden Trichlorethylen, mit dem hier jahrzehntelang nach der Fertigung die Halbleiter gesäubert wurden – im Santa Clara County eine rekordverdächtige Zahl an sogenannten »superfund sites« hinterlassen haben, von der Umweltbehörde als hochgradig kontaminiert ausgewiesene Areale, die nur unter massivem finanziellen Aufwand aus öffentlicher Hand in jahrzehntelanger Arbeit entgiftet werden können. Doch weil alles auf Neuanfang gestellt werden soll, will man im Silicon Valley von solchen buchstäblichen Altlasten nichts wissen.
Das zeigt sich auch an den Namen der hier steinreich Gewordenen und immer noch Werdenden. Namen, die von Geld erzählen, das im Hier und Jetzt, in dieser Generation verdient wird und nicht von irgendeiner früheren Generation geerbt worden ist. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die deutsche Besorgnis ob der Hypertrophie des Erbens ungefähr zeitgleich mit der Faszination für das Gegenbild Silicon Valley aufkam. Die Erbengesellschaft ist eine, die vor lauter Vergangenheit nicht mehr zur Gegenwart kommt. »Weh dir, daß du ein Enkel bist!«, sagt Mephistopheles – Enkel sein ist wahrscheinlich ein zutiefst europäisches Trauma, im Silicon Valley ist es jedenfalls keines.