Heft 879, August 2022

Die Katze von Kilrenny

von Aleks Scholz

Am 25. September 1997 sieht Jack Marr einen Schwarzen Panther. Marr ist mit zwei Kollegen dabei, Hecken zu schneiden, in Kilrenny Commons, einem Park in der Nähe der schottischen Stadt Anstruther. Ein schwarzer Körper erscheint vor ihm, fünfzig Meter entfernt, neben einer Brücke, die über die ehemalige Bahntrasse führt. Vielleicht ein streunender Hund, denkt Jack Marr, aber dann wird ihm klar, dass es sich um eine Großkatze handelt. Ein Panther, genauer gesagt. Jack Marr ist vertraut mit den in Schottland üblichen Tieren und hat so etwas noch nie gesehen. Der Panther verschwindet zügig und wird nie wieder an dieser Stelle gesichtet. Die Zeitungen schreiben vom »Beast von Fife«. Fife ist eine Provinz in Schottland, eine Halbinsel zwischen Edinburgh und Dundee. Am Tag nach der Panther-Sichtung meldet ein Mann, dass ein großer schwarzer Hund alleine durch Kilrenny Commons wandert.

Im Folgenden wird es um wildlebende Katzen gehen, die deutlich größer als Hauskatzen sind, vor allem um Leoparden, Luchse und Pumas. Im englischsprachigen Raum werden diese Tiere als »big cats« zusammengefasst. Taxonomisch gehört der Panther (die schwarze Variante des Leoparden) zu den Eigentlichen Großkatzen (Panthera), genau wie Löwe, Tiger, Jaguar, Schneeleopard. Puma und Luchs zählt man zu den Kleinkatzen (Felinae), wozu auch die Europäische Wildkatze und die Hauskatze gehören. Kleinkatzen können nicht brüllen, die meisten Großkatzen jedoch schon. Dafür schnurren Kleinkatzen, Großkatzen jedoch nicht. Der Einfachheit halber nenne ich Leoparden, Luchse und Pumas im Folgenden ebenfalls Großkatzen, so inkorrekt das taxonomisch auch sein mag. Wenn man im Park in Schottland einer Katze begegnet, dann interessiert vor allem, wie groß sie ist, nicht ob sie in der Lage ist, zu schnurren.

Für einen zufälligen Beobachter wie Jack Marr zählt vor allem die Rumpflänge. Das Gewicht kann man auf die Entfernung kaum zuverlässig schätzen, und auch die Höhe ist schwierig anzugeben, wenn das Gelände nicht völlig flach ist. Luchse sind ohne Schwanz etwa einen Meter lang, Leoparden und Pumas ein bis zwei Meter. Bei den beiden Letztgenannten kommt ein langer Schweif hinzu. Zum Vergleich: Hauskatzen messen höchstens einen halben Meter von Schnauze zum Schwanzanfang, Deutsche Schäferhunde etwa siebzig Zentimeter. Mein Hund, ein Alaskan Malamute, ist in etwa so lang wie ein Luchs und wiegt so viel wie ein kleiner Leopard oder Puma. Es gibt größere Hunde, aber nicht sehr viele. Offiziell gibt es in Großbritannien keine wildlebenden Katzen, die auch nur annähernd so groß sind wie mein Hund. Also keine Luchse, keine Panther, keine Pumas. Aber was hat Jack Marr dann gesehen?

Zufällig kenne ich die Gegend von Kilrenny, weil ich nur ein paar Kilometer entfernt wohne und dort oft mit dem Hund spazieren gehe. Es ist kein idealer Wohnort für Leoparden: ein paar Bäume um einen Spielplatz und einen Teich. Nebenan Schafweiden und Felder, weite, große Felder. Immer mehr Felder, ohne Deckung, ohne Schutz. Überhaupt ist Fife vorwiegend landwirtschaftliche Nutzfläche, es gibt Kleinstädte, Dörfer, aber fast keine richtigen Wälder, wenig Wildnis. Immerhin genug zu essen für fleischfressende Tiere – Rehe, Hasen, Kaninchen, die sich in den wenigen Flecken mit dichter Vegetation verstecken, in Büschen mit Stacheln, in Gräben und Dickichten. Außerdem Schafe, Hunde und Katzen. Verhungern muss das »Beast von Fife« sicher nicht.

Der Panther von Kilrenny ist nicht die einzige Großkatzensichtung in meiner näheren Umgebung. Im Januar 1984 sehen drei Jäger eine große schwarze Katze am Cameron-Stausee. Zwei Jahre später wird eine gelbe Katze in der Nähe von Cupar gesehen, vom Zug aus. Wieder zwei Jahre danach wird ein Luchs gemeldet, in der Gegend von St Andrews, diesmal von mehreren Augenzeugen. Im Jahr 1996 reißt ein vermeintlicher Puma mehrere Schafe und greift außerdem ein Pferd an. Abermals gibt es mehrere Augenzeugen. Im Jahr darauf taucht wieder eine Großkatze auf, diesmal ein bisschen weiter westlich, ebenfalls ein Puma: der »Cougar von Cupar«.

Die Meldungen häufen sich in den nächsten fünf Jahren. Immer wieder schwarze, große Katzen. In Leuchars, Ladybank, Balmerino, Elie, Burntisland, Luthrie, Falkland, Wormit, Lundin, Largoward, Colinsburgh, Pittenweem, Freuchie, Auchtermuchty, Tayport. Das sind alles Orte innerhalb eines Radius von zwanzig Kilometern. Ist der »Cougar von Cupar« dasselbe Tier wie das »Biest von Fife«? »Schottlands Serengeti«, so nennen einige die Gegend bald schon. Und so geht es seitdem weiter. Jedes Jahre neue Meldungen. Meistens ist die Katze schwarz, manchmal auch gelb oder grau. Wie viele Großkatzen gibt es in meiner Umgebung? Leoparden und Pumas können ein Territorium von mehreren hundert Quadratkilometern bewohnen.

Die Serengeti ist überall. In Schottland, Wales, Yorkshire, Exmoor, Kent, Gloucestershire, Dorset, Sussex. Überall, wo in Großbritannien Menschen wohnen, werden Großkatzen gesehen. Das Biest von Exmoor, von Bodmin Moor, von Buchan, von Dartmoor. Das Biest von Cricklewood. Ähnliche Berichte existieren in Nordirland und Irland. Immer wieder macht sich jemand die Mühe, die Berichte zu sammeln, zu katalogisieren und zu kartieren. Alle Sichtungen aus Fife, von denen eben die Rede war, stammen aus dem Katalog des »Scottish Big Cat Trust«, eines Projekts, das um die Jahrtausendwende aktiv war. Es sind so viele. Beinahe jedes Dorf in meiner unmittelbaren Umgebung hat Geschichten von einer Großkatze. »Es gibt kaum eine anständige Gemeinde in Großbritannien, in der es kein ›Biest‹ gibt«, schreibt der britische Autor George Monbiot in seinem Buch Feral, erschienen im Jahr 2013.

Eine einzige Großkatze, die von irgendjemandem gesehen wurde, lässt sich immer leicht erklären. Ein paar Dutzend Sichtungen vielleicht auch. Vielleicht streunte rings um die Jahrtausendwende tatsächlich ein Puma durch Fife, der sich immer wieder an wechselnden Orten zeigte. Womöglich ein exotisches Haustier, das aus dem Gehege entkam. Für sich genommen ist jede Einzelne dieser Sichtungen oder sogar eine lokale Häufung von Sichtungen leicht erklärbar. In Großbritannien tauchen jedoch ständig und überall Großkatzen auf. Jedes Jahr werden ungefähr zweitausend Sichtungen erfasst, über mehrere Jahrzehnte hinweg, und kein Ende in Sicht. Wie viele ungemeldet bleiben, ist nicht klar. Sind das alles nur Hirngespinste? Oder schwarze Hunde?

Ausgefeilte Theorie

Der englische Zoologe Karl Shuker hat eine ausgefeilte Theorie, worum es sich bei den vielen Sichtungen von Großkatzen handelt. Er nennt es die »Composite-Identity«-Theorie. Shuker ist der Herausgeber einer Zeitschrift zur Kryptozoologie, der Wissenschaft, die sich mit Tieren befasst, deren Existenz umstritten ist. Das Monster von Loch Ness und Bigfoot fallen in dieses Ressort. Shuker ist außerdem der Autor einer Monografie über geheimnisvolle Katzen mit dem Titel Mystery Cats of the World. Das Buch erschien 1989 und wurde 2020 in einer überarbeiteten Version neu aufgelegt. Es ist ein Nachschlagewerk über Großkatzen, die es vielleicht gar nicht gibt.

Shukers Meinung nach gehen die Augenzeugenberichte auf fünf unterschiedliche Tierarten zurück: Zum einen verwilderte Hauskatzen, die deutlich näher sind, als der Beobachter einschätzt, und darum größer wirken. Zum zweiten große Hunde. Weiterhin nennt er noch Wildkatzen und Luchse als mögliche Kandidaten. Dazu sei gesagt, dass es Wildkatzen in Großbritannien tatsächlich gibt, aber nur in Schottland; Luchse sind auf der Insel offiziell seit einem Jahrtausend ausgestorben. Wildkatzen und Luchse sind selbst dort, wo sie nicht ausgestorben sind, extrem selten zu sehen.

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