Die Kultur des Kompromisses
von Oliver LepsiusMehrheit und Minderheiten
Die Mehrheit entscheidet. Hat deswegen aber die Minderheit das Nachsehen? Warum darf die Mehrheit entscheiden? Sie hat ja nicht Recht, nur weil sie die Mehrheit ist. Sonst müsste die Minderheit umgekehrt ja Unrecht haben oder Unrichtiges vertreten, was einer pluralistischen Demokratie mit Meinungsfreiheit widerspräche. Gleichwohl mögen sich viele im Recht wähnen, weil sie die Mehrheit sind. Man spürt dies, wenn sich Gruppen, mögen sie noch so stark sein, auf »das Volk« berufen. Man sei das Volk, man spreche für das Volk, man verkörpere den Volkswillen – hinter solchen Formeln steckt ein Richtigkeitsanspruch, ein Anspruch auf Rechthaben, der rhetorisch mit der Mehrheit operiert. Wer vom Volk spricht, invoziert subkutan immer eine Position der ganz breiten Mehrheit, aus welcher wiederum ein Durchsetzungsanspruch der einen Seite und eine Fügsamkeitserwartung an die andere Seite abgeleitet wird.
Wäre es anders, hätte die Mehrheit Recht, drohte deren Tyrannei. Eine Mehrheit könnte ihre Überzeugungen mithilfe des Majoritätsprinzips dekretieren und die Auffassungen der Minderheit unterdrücken. Ein so verstandenes Majoritätsprinzip schafft eine freiheitliche Gesellschaft nur für den jeweils größeren Teil, nicht aber für alle. Diese Schlussfolgerung verändert unsere Blickrichtung. In der Demokratie geht es nicht nur um Mehrheit, sondern auch um Freiheit: Jede Meinung wird grundsätzlich gleich geschätzt. Demokratie basiert auf Relativismus. Man muss die gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Der Wettbewerb gleichberechtigter Meinungen wird sozialtechnisch durch ein Mehrheitsvotum entschieden. Das Majoritätsprinzip ist eine Entscheidungsregel, keine Richtigkeitsregel. Das Majoritätsprinzip wirkt formell, nicht materiell.
Auf eine mehrheitlich getroffene Entscheidung lassen sich die Beteiligten nicht kraft ihrer inneren Überzeugung ein. Die Unterlegenen müssen die Meinung der Mehrheit nicht billigen. Die Minderheit beugt sich der Entscheidung der Mehrheit nur in der Erwartung der Chance, ihrerseits einmal zur Mehrheit zu werden und dann die Entscheidung zu ändern. Ohne eine solche Chance fehlte die freiwillige Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung. Sieht eine Minderheit keine Chance, ihrerseits einmal als Teil der Mehrheit die eigenen Überzeugungen umzusetzen, hat sie an der Aufrechterhaltung einer Mehrheitsregel, die immer nur den anderen nützt, kein dauerhaftes Interesse. Im Übrigen besitzt eine Minderheit immer auch die Möglichkeit, auf die Entscheidungen der Mehrheit einzuwirken: formell durch das Diskurs- und Entscheidungsverfahren (Partizipation, Öffentlichkeit), materiell durch die Inanspruchnahme von Grundrechten, die zu Vetopositionen erstarken können.
Insofern etabliert das parlamentarische Verfahren bereits als solches einen Kompromiss, ohne dass dafür ein politisches Vorsortieren nach Mehrheiten und Minderheiten etwa in Gestalt einer Fraktionsbildung nötig wäre. Fehlt am Ende jedoch die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung durch die Minderheit, muss die Entscheidung mit Zwang durchgesetzt werden. Das gelingt gegenüber individuellen Delinquenten, aber nicht gegenüber sozialen Gruppen, die sich politisch organisieren. Je nach der Zahl der Delinquenten und ihrem Gruppenbezug stellte sich bei der zwanghaften Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen irgendwann die Frage nach dem Polizei- und Unterdrückungsstaat. Eine Gesellschaft, in der Regeln permanent mit Zwang durchgesetzt werden müssten, wäre, unabhängig davon, wie man zu diesen Regeln steht, keine freiheitliche Gesellschaft. Erneut sehen wir: Gerade in der majoritären Demokratie geht es immer auch um Freiheit.
Das Majoritätsprinzip setzt daher die Chance voraus, zur Majorität zu werden. Es funktioniert nur mit einem Wettbewerb um Mehrheiten. Dieser wiederum setzt andere Meinungen voraus. Wenn sich in einem Wettbewerb der Meinungen neue Mehrheiten bilden, dann kann nicht nur eine Minderheit zur Mehrheit werden, sondern es gilt auch umgekehrt: Mehrheiten können zur Minderheit werden. Jeder kann sich potenziell in der Minderheit wiederfinden. Gerade deswegen hat auch die aktuelle Mehrheit ein Interesse, die formalen, verfahrensbezogenen Positionen der aktuellen Minderheit zu achten. Die Achtung der Anderen erfolgt im wohlverstandenen Eigeninteresse.
Das Majoritätsprinzip geht also Hand in Hand mit Pluralismus und Relativismus. Eine soziale Vielheit muss sich im politischen Wettbewerb formen und finden, Zäsuren produzieren, also abstimmen und Mehrheiten erzeugen. Daraus entstehen neue Meinungen, eine Dynamik der fortwährenden politischen Entwicklung der Ideen und ein kontinuierlicher Ausgleich der Interessen. Wenn Mehrheiten ein deswegen immer nur vorübergehender Zustand sind, dann erleichtert dies die Akzeptanz ihrer Entscheidungen. Wir können Mehrheitsentscheidungen akzeptieren, weil wir sie nicht für richtig halten müssen und wissen, dass wir sie ändern können. Akzeptanz setzt daher weder die Übereinstimmung der Akzeptierenden voraus noch gar eine Überzeugung von der Richtigkeit. Die Akzeptanz der Minderheit gründet darauf, anderer Ansicht bleiben zu dürfen. Die Minderheit akzeptiert die Akzeptanzbedingungen der Entscheidung, nicht die Entscheidung selbst.
Gilt das auch für die Mehrheit? Muss jedenfalls sie die Entscheidung inhaltlich teilen als Bedingung für ihre Akzeptanz? Worauf also gründet die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung durch die Mehrheit selbst? Ist sie an die Entscheidung gebunden, weil sie sie legitimiert hat? Wäre dem so, dann hätte die Mehrheit ein Freiheitsproblem. Ihre Freiheit ginge in der arithmetischen Zustimmung unter. Die Mitglieder der Minderheit behielten ihre eigene Meinung, während die Mitglieder der Mehrheit die eigene Meinung eingetauscht hätten gegen die Zugehörigkeit zur Mehrheit.
Man müsste dieses Problem dann auch so formulieren können: Die Nein-Sager muss nichts einen. Jeder darf aus seinen persönlichen Überzeugungen dagegen sein. Die Ja-Sager hingegen müsste etwas einen: Sie benötigten eine inhaltliche Übereinstimmung als Voraussetzung für die Mehrheitsbildung. Das wäre eine merkwürdige Annahme, weil sie die Nein-Sager privilegierte. Sie behielten ihre Freiheit, nein sagen zu dürfen und das aus unausgesprochenen Gründen zu tun, denn es kann ihnen ja egal sein, warum andere gleichfalls nicht zustimmen. Anders läge es bei den Zustimmenden: Sie müssten wissen, warum andere zustimmen, weil sonst keine Mehrheit zustande käme. Warum aber sollten, unter dem Aspekt der individuellen Meinungsfreiheit, Nein-Sager privilegiert werden, indem sie mehr Freiheiten genießen als die Ja-Sager?