Heft 919, Dezember 2025

Die Kultur des Kompromisses

von Oliver Lepsius

Mehrheit und Minderheiten

Die Mehrheit entscheidet. Hat deswegen aber die Minderheit das Nachsehen? Warum darf die Mehrheit entscheiden?1 Sie hat ja nicht Recht, nur weil sie die Mehrheit ist. Sonst müsste die Minderheit umgekehrt ja Unrecht haben oder Unrichtiges vertreten, was einer pluralistischen Demokratie mit Meinungsfreiheit widerspräche. Gleichwohl mögen sich viele im Recht wähnen, weil sie die Mehrheit sind. Man spürt dies, wenn sich Gruppen, mögen sie noch so stark sein, auf »das Volk« berufen. Man sei das Volk, man spreche für das Volk, man verkörpere den Volkswillen – hinter solchen Formeln steckt ein Richtigkeitsanspruch, ein Anspruch auf Rechthaben, der rhetorisch mit der Mehrheit operiert. Wer vom Volk spricht, invoziert subkutan immer eine Position der ganz breiten Mehrheit, aus welcher wiederum ein Durchsetzungsanspruch der einen Seite und eine Fügsamkeitserwartung an die andere Seite abgeleitet wird.

Wäre es anders, hätte die Mehrheit Recht, drohte deren Tyrannei. Eine Mehrheit könnte ihre Überzeugungen mithilfe des Majoritätsprinzips dekretieren und die Auffassungen der Minderheit unterdrücken. Ein so verstandenes Majoritätsprinzip schafft eine freiheitliche Gesellschaft nur für den jeweils größeren Teil, nicht aber für alle. Diese Schlussfolgerung verändert unsere Blickrichtung. In der Demokratie geht es nicht nur um Mehrheit, sondern auch um Freiheit: Jede Meinung wird grundsätzlich gleich geschätzt. Demokratie basiert auf Relativismus. Man muss die gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Der Wettbewerb gleichberechtigter Meinungen wird sozialtechnisch durch ein Mehrheitsvotum entschieden. Das Majoritätsprinzip ist eine Entscheidungsregel, keine Richtigkeitsregel. Das Majoritätsprinzip wirkt formell, nicht materiell.

Auf eine mehrheitlich getroffene Entscheidung lassen sich die Beteiligten nicht kraft ihrer inneren Überzeugung ein. Die Unterlegenen müssen die Meinung der Mehrheit nicht billigen. Die Minderheit beugt sich der Entscheidung der Mehrheit nur in der Erwartung der Chance, ihrerseits einmal zur Mehrheit zu werden und dann die Entscheidung zu ändern. Ohne eine solche Chance fehlte die freiwillige Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung. Sieht eine Minderheit keine Chance, ihrerseits einmal als Teil der Mehrheit die eigenen Überzeugungen umzusetzen, hat sie an der Aufrechterhaltung einer Mehrheitsregel, die immer nur den anderen nützt, kein dauerhaftes Interesse. Im Übrigen besitzt eine Minderheit immer auch die Möglichkeit, auf die Entscheidungen der Mehrheit einzuwirken: formell durch das Diskurs- und Entscheidungsverfahren (Partizipation, Öffentlichkeit), materiell durch die Inanspruchnahme von Grundrechten, die zu Vetopositionen erstarken können.

Insofern etabliert das parlamentarische Verfahren bereits als solches einen Kompromiss, ohne dass dafür ein politisches Vorsortieren nach Mehrheiten und Minderheiten etwa in Gestalt einer Fraktionsbildung nötig wäre.2 Fehlt am Ende jedoch die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung durch die Minderheit, muss die Entscheidung mit Zwang durchgesetzt werden. Das gelingt gegenüber individuellen Delinquenten, aber nicht gegenüber sozialen Gruppen, die sich politisch organisieren. Je nach der Zahl der Delinquenten und ihrem Gruppenbezug stellte sich bei der zwanghaften Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen irgendwann die Frage nach dem Polizei- und Unterdrückungsstaat. Eine Gesellschaft, in der Regeln permanent mit Zwang durchgesetzt werden müssten, wäre, unabhängig davon, wie man zu diesen Regeln steht, keine freiheitliche Gesellschaft. Erneut sehen wir: Gerade in der majoritären Demokratie geht es immer auch um Freiheit.

Das Majoritätsprinzip setzt daher die Chance voraus, zur Majorität zu werden. Es funktioniert nur mit einem Wettbewerb um Mehrheiten. Dieser wiederum setzt andere Meinungen voraus. Wenn sich in einem Wettbewerb der Meinungen neue Mehrheiten bilden, dann kann nicht nur eine Minderheit zur Mehrheit werden, sondern es gilt auch umgekehrt: Mehrheiten können zur Minderheit werden. Jeder kann sich potenziell in der Minderheit wiederfinden. Gerade deswegen hat auch die aktuelle Mehrheit ein Interesse, die formalen, verfahrensbezogenen Positionen der aktuellen Minderheit zu achten. Die Achtung der Anderen erfolgt im wohlverstandenen Eigeninteresse.

Das Majoritätsprinzip geht also Hand in Hand mit Pluralismus und Relativismus. Eine soziale Vielheit muss sich im politischen Wettbewerb formen und finden, Zäsuren produzieren, also abstimmen und Mehrheiten erzeugen. Daraus entstehen neue Meinungen, eine Dynamik der fortwährenden politischen Entwicklung der Ideen und ein kontinuierlicher Ausgleich der Interessen. Wenn Mehrheiten ein deswegen immer nur vorübergehender Zustand sind, dann erleichtert dies die Akzeptanz ihrer Entscheidungen. Wir können Mehrheitsentscheidungen akzeptieren, weil wir sie nicht für richtig halten müssen und wissen, dass wir sie ändern können. Akzeptanz setzt daher weder die Übereinstimmung der Akzeptierenden voraus noch gar eine Überzeugung von der Richtigkeit.3 Die Akzeptanz der Minderheit gründet darauf, anderer Ansicht bleiben zu dürfen. Die Minderheit akzeptiert die Akzeptanzbedingungen der Entscheidung, nicht die Entscheidung selbst.

Gilt das auch für die Mehrheit? Muss jedenfalls sie die Entscheidung inhaltlich teilen als Bedingung für ihre Akzeptanz? Worauf also gründet die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung durch die Mehrheit selbst? Ist sie an die Entscheidung gebunden, weil sie sie legitimiert hat? Wäre dem so, dann hätte die Mehrheit ein Freiheitsproblem. Ihre Freiheit ginge in der arithmetischen Zustimmung unter. Die Mitglieder der Minderheit behielten ihre eigene Meinung, während die Mitglieder der Mehrheit die eigene Meinung eingetauscht hätten gegen die Zugehörigkeit zur Mehrheit.

Man müsste dieses Problem dann auch so formulieren können: Die Nein-Sager muss nichts einen. Jeder darf aus seinen persönlichen Überzeugungen dagegen sein. Die Ja-Sager hingegen müsste etwas einen: Sie benötigten eine inhaltliche Übereinstimmung als Voraussetzung für die Mehrheitsbildung. Das wäre eine merkwürdige Annahme, weil sie die Nein-Sager privilegierte. Sie behielten ihre Freiheit, nein sagen zu dürfen und das aus unausgesprochenen Gründen zu tun, denn es kann ihnen ja egal sein, warum andere gleichfalls nicht zustimmen. Anders läge es bei den Zustimmenden: Sie müssten wissen, warum andere zustimmen, weil sonst keine Mehrheit zustande käme. Warum aber sollten, unter dem Aspekt der individuellen Meinungsfreiheit, Nein-Sager privilegiert werden, indem sie mehr Freiheiten genießen als die Ja-Sager?

Natürlich behalten auch die Mitglieder der Mehrheit eine eigene Meinung. Auch sie müssen die Mehrheitsentscheidung grundsätzlich nicht richtig finden. Das ist schon die abstrakte Konsequenz des Relativismus, aber auch eine konkrete Konsequenz des Meinungswettbewerbs. Wer sagt, dass man an seiner Meinung immer festhält? Bei einem Wettbewerb der Meinungen als Voraussetzung für das Mehrheitsprinzip als formelle Entscheidungsregel gilt natürlich auch für diejenigen, die am Tag eins eine Mehrheit bilden, dass sie am Tag zwei eine andere Meinung haben dürfen. Sie müssen der Mehrheitsentscheidung nicht deswegen folgen, weil sie ihr einmal zugestimmt haben. Auch sie dürfen ihre Meinungen ändern, auch sie bleiben gegenüber der Mehrheitsentscheidung frei. Die Freiheit in der Demokratie ist eine gleiche. Sie kann nicht für die Minderheit anders gedacht werden als für die Mehrheit.

Mit dieser Beobachtung relativiert sich die Vorstellung einer »Herrschaft« der Mehrheit. Das Majoritätsprinzip führt gerade nicht zur Mehrheitsherrschaft.4 Es setzt sich zwar eine Mehrheit durch, aber diese Mehrheit ist immer eine relative, die keine beständige Überzeugungsgemeinschaft voraussetzen kann. Wenn dem so ist, weil eine majoritäre Demokratie einen Pluralismus nicht bloß vorfindet, sondern ihn zugleich erzeugt, weil es notwendig immer andere Meinungen und deshalb potenziell andere Mehrheiten gibt, dann wird die Schlussfolgerung unausweichlich: Im Grunde gibt es gar keine Mehrheit. Es gibt nur eine rechnerische Übereinstimmung, aber keine inhaltliche.

Was eint nun nach einem Wahlergebnis diejenigen, die der erzeugten Mehrheit durch ihre Stimmabgabe zugestimmt haben? Sie wissen es ex ante nicht einmal. Die Wähler der Parteien, die 2021 die Ampelkoalition bildeten, wussten bei der Stimmabgabe nicht, für welche Mehrheit sie im Ergebnis stimmen. Die Wähler der FDP werden sicher ganz andere Vorstellungen gehabt haben als die seinerzeitigen Wähler der Grünen. Wie die Mehrheit nach der Bundestagswahl 2025 aussehen würde, war bei der Stimmabgabe höchst unklar. Hätte das BSW 0,1 Prozent mehr Stimmen erhalten, wäre die jetzige Regierungskoalition nicht möglich, ein dritter Koalitionspartner unvermeidlich gewesen und damit nur eine neue, »schwarze Ampelregierung« entstanden. Letztlich hat die Linke die Bundestagswahl entschieden, indem sie auf den letzten Metern dem BSW die entscheidenden Stimmen abgenommen hat. Aber kein Linken-Wähler, dessen Stimme diesen Effekt hatte, wird einen Kanzler Friedrich Merz gewählt haben wollen.

Handlungsfähigkeit durch Nachgeben

Mehrheiten existieren also nicht, sie werden hergestellt. Es gibt real keine Mehrheit, sondern nur Minderheiten. Daraus folgt die Einsicht: Eine Mehrheit entsteht aus den kompromissfähigsten Minderheiten. Die Ja-Sager eint keine inhaltliche Überzeugung, sondern nur ein formeller Grad an Zustimmung. Wie hoch muss er sein? Ob der Grad bei 50 oder bloß bei 30 Prozent liegt, wird jeder für sich beantworten müssen. Typischerweise hängt der Grad mit dem Wahlergebnis zusammen. Die stärkste Partei wird den höchsten Grad an Zustimmung reklamieren. Eine schwache Partei wird ihre Chance, zur Mehrheit zu gehören, schon bei einem geringeren Grad an Zustimmung wahrnehmen. Eine Partei, auf die es als Mehrheitsbeschaffer am Ende ankommt, kann den Preis wiederum hochschrauben und mehr verlangen, als ihr nach dem Wahlergebnis eigentlich zustünde (was übrigens Sperrklauseln im Wahlrecht rechtfertigt, weil ansonsten Kleinparteien einen überproportional großen Einfluss erlangen könnten). Unabhängig davon, wie hoch der Zustimmungsgrad ist, bleibt die Zustimmung immer nur eine relative. Sie wird erteilt unter der Bedingung, dass eine andere Meinung möglich bleibt. Niemand muss das Ergebnis der Zustimmung inhaltlich teilen, zumal sich auch niemand inhaltlich durchsetzt. Einen Kompromiss einzugehen heißt also, ein bestimmtes Ergebnis unter bestimmten Bedingungen für vorzugswürdig zu halten, nicht jedoch, es zu seiner eigenen Meinung machen zu müssen. Kompromiss ist eine Technik des gegenseitigen Nachgebens: von den 100 Prozent des Parteiprogramms zu den X Prozent der Koalitionsvereinbarung. Alle, die nachgeben, kriegen nicht, was sie wollten, aber alle kriegen eine Durchsetzungschance für Teile ihres Programms.

Man kann ein solches Nachgeben defizitär saldieren. Wer nachgibt, heißt es dann gerne, sei nicht standfest, zeige kein Rückgrat, sei charakterlos, verrate die eigene Klientel. Es ist dann von Zurückweichen oder Einknicken die Rede, weil es »um die Sache gehe«. Wähler reagieren auf ein Nachgeben meist mit dem Vorwurf, Wahlversprechen seien gebrochen worden. Dabei gilt als Grundregel doch: Wer Mehrheiten erzeugen will, muss nachgeben und kann demzufolge seine Wahlversprechen nicht einseitig durchsetzen, muss sie also – jedenfalls teilweise – »brechen«. In der Wahl dienen Versprechen der Motivierung zur Stimmabgabe; nicht aber dürfen sie als eine inhaltliche Festlegung für die Zeit nach der Wahl verstanden werden, weil ansonsten Mehrheiten nicht erzeugt werden könnten und man im Übrigen auch auf Veränderungen nicht reagieren könnte. Selbst unter der unwahrscheinlichen Bedingung, dass eine Partei einmal eine eigene Mehrheit hätte, entstünde das oben behandelte Freiheitsproblem, wenn diese Partei an einmal getroffenen inhaltlichen Aussagen stur festhielte.

In unserem politischen System müssen »Wahlversprechen« unweigerlich »gebrochen« werden. Das lässt sich nicht vermeiden aus Gründen der Mehrheitserzeugung wie der Aufrechterhaltung der Entscheidungsfreiheit innerhalb der Mehrheit. Es zeugt von Unverstand, wenn in der (Medien)Öffentlichkeit das »Brechen« von Wahlversprechen zum Vertrauensverlust führt. Die Konsequenz wäre doch: Nur Nein-Sager könnten sich treu bleiben. Würde eine solche Treue moralisch gepriesen, ließe sich die Handlungsfähigkeit eines politischen Systems nicht herstellen. Warum aber haben wir abstrakt die Erwartung, dass Wahlversprechen umgesetzt werden müssen und andernfalls ein Vertrauensverlust droht, wenn das politische System der Mehrheitsbeschaffung konkret darauf angewiesen ist, dass die Ja-Sager nachgeben müssen? Es wäre fatal, wenn die Nein-Sager als die Charakterfesten dastehen, weil dies hieße, dass Handlungsunwilligkeit moralisch prämiert würde.

Man kann ein solches Nachgeben aber auch positiv saldieren.5 Der Klügere gibt nach, sagt der Volksmund. Wenn sich alle Gruppen zunächst in der Position einer Minderheit vorfinden, dann können sie durch die Technik des Nachgebens inhaltliche Anliegen verwirklichen, obwohl sie von einer Mehrheit rechnerisch weit entfernt sind. In der Verwirklichungsperspektive gibt der Nachgebende weniger auf, als er durch Dabeisein dazugewinnt. Durch Kompromisse gibt man seine Ursprungsüberzeugung nicht preis, aber man verzichtet auf deren vollständige Umsetzung. Durch die Zustimmung, die man dadurch mit anderen erzielt, gewinnt man etwas, was man vorher nicht hatte: eine Mehrheit.

Wir können also festhalten: In der Demokratie ist als Leistung eines politischen Systems nicht mehr zu erwarten als ein Kompromiss. Der Kompromiss ist die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des politischen Systems. Er macht aus Überzeugungen Entscheidungen. Kompromisse werden jedoch meist negativ konnotiert. Das in Deutschland mit Kompromissen typischerweise einhergehende Adjektiv lautet »faul«.6 Wer Kompromisse eingeht, kompromittiert sich. Die verantwortlich handelnden Politiker müssen sich auf den Parteitagen vor ihrer Basis rechtfertigen. In Talkshows werden sie mit früheren Äußerungen konfrontiert und an diesen gemessen. In der Summe herrscht in der Öffentlichkeit der Eindruck, es würden Überzeugungen reiner Machttaktik geopfert. Regierungsparteien erleiden dann unweigerlich einen Vertrauensverlust, während Oppositionsparteien, vor allem extreme Parteien, die nie oder nur selten in Verantwortung eingebunden sind, als die Glaubwürdigen dastehen. Oder verantwortungsethisch handelnden Politikern wird Zaudern und Entscheidungsschwäche vorgeworfen, wenn sie sich zur Mehrheitsbeschaffung mit dauernden Kompromissverhandlungen beschäftigen müssen. Man erinnere sich an das Image von Bundeskanzler Scholz. So wird in Deutschland der Kompromiss meist als Verlust und Defizit empfunden,7 obwohl er in Wirklichkeit einen Gewinn und eine Sozialtechnik darstellt, um Meinungen und Überzeugungen in Entscheidungen zu verwandeln.

Volkswille und Willensfreiheit

Aus dem Satz, ohne Kompromisse hat man nur Meinungen, erst der Kompromiss macht aus Meinungen Entscheidungen, folgt zugleich: Ohne Kompromisse besäßen wir als politisch handelnde Gemeinschaft keine Einigung, Orientierung und Handlungsgewissheit. Das verwundert, denn man könnte ja meinen, es gäbe einen Volkswillen und zu diesem müsse sich der Kompromiss notgedrungen defizitär verhalten. Er sei bestenfalls eine Annäherung an den Volkswillen, eigentlich eine Abweichung vom Volkswillen. Wahrscheinlich liegt in dieser gedachten Differenz eine Hauptursache für die schlechte Presse von Kompromissen nach dem Motto: Wir wollen die Herrschaft des Volkswillens, aber wir bekommen die Herrschaft des Kompromisses. Das Problem freilich ist, dass es einen Volkswillen nicht gibt.

Es kann ihn aus drei Gründen nicht geben. Erstens lässt er sich empirisch nicht erheben. Wie sollte man einen solchen Volkswillen erheben, wenn nicht durch eine Wahl? Das Wahlergebnis aber bildet keinen einheitlichen Willen ab, sondern es erzeugt politische Minderheiten, die erst durch Kompromisse eine Mehrheit bilden können. Zweitens: Selbst wenn man annähme, es gäbe einen Volkswillen, entstünde das Problem, ob er feststeht oder sich wandelt. Wie ginge man mit dem Volkswillen, der am Tag eins erhoben worden wäre, am Tag zwei um? Wie am Tag hundert? Wäre am Tag tausend der Volkswille von Tag eins immer noch handlungsleitend? Selbst wenn es einen Volkswillen gäbe, könnte aus diesem keine irgendwie geartete Bindung folgen. Er wäre schon am Tag zwei politisch nutzlos. Drittens gibt es kein Subjekt, keinen Träger des Volkswillens. Als Volk hat das Volk keinen Willen. Einen Willen äußert das Volk nur als Wähler. Die Wähler sind jedoch nicht identisch mit dem Volk. Säuglinge zählen zum Volk, nicht zu den Wählern. Ausländer können zu Wählern zählen (Unionsbürger), nicht aber zum Volk, wohl aber zur Bevölkerung. Wähler können zum Volk, nicht aber zur Bevölkerung zählen (Auslandsdeutsche). Bevölkerung – Volk – Wähler – Volljährige: Das politisch handelnde Subjekt bedarf der juristischen Konstruktion.

Von einem Volkswillen zu sprechen, ist im Lichte der hier zu erbringenden Konstruktionsleistung geradezu naiv. Ein Wille muss immer einem Subjekt zugerechnet werden. Kollektive, aber auch Organe haben keinen Willen. Sie erzeugen einen Willen: durch Wahl, durch Repräsentation. Ein erzeugter Wille kann dem Organ oder einem Kollektiv zugerechnet werden, darf aber nie mit einem tatsächlichen Willen verwechselt werden, der sich kollektiv weder zeigt noch erhoben werden kann. Man stelle sich vor, es wäre anders. Was passierte dann mit dem eigenen Willen, wenn er mit dem sogenannten Volkswillen nicht übereinstimmt? Wäre er unzulässig, unrichtig, sozialschädlich, dürfte er unterdrückt und bekämpft werden? Die Rede vom Volkswillen hat nichts Basisdemokratisches, sondern ist latent totalitär, weil dort kein Platz für Minderheiten im Wettbewerb um Mehrheiten wäre.

Die Vorzüge des Kompromisses zeigen sich nun gerade im Kontrast zu einem gedachten Volkswillen. Kompromisse ermöglichen und belassen die individuelle Willens- und Handlungsfreiheit. Darin liegt eine wichtige Voraussetzung für den Wettbewerb in der Demokratie und zugleich eine Leistung der Demokratie. Demokratie soll ja eine Herrschaftsform sein, in der die Herrschaft nicht die individuelle Freiheit beseitigt oder ersetzt. Das garantiert gerade die Kultur des Kompromisses.

In diesem Zusammenhang ist auf eine wichtige Differenz hinzuweisen. Ein Kompromiss ist kein Konsens, und er darf auch nie für einen Konsens gehalten werden.8 Beim Konsens teilen die Beteiligten das Ergebnis inhaltlich. Sie sind gemeinsam zu derselben Überzeugung gelangt. Das ist beim Kompromiss gerade nicht der Fall. Hier handelt es sich um ein strategisches, instrumentelles Verhalten des gegenseitigen Nachgebens, und zwar nur um so viel, bis sich ein gemeinsamer Nenner eingestellt hat. Dieser Nenner muss nicht inhaltlich geteilt werden, sondern er wird formal akzeptiert. Anders als beim Konsens wollen die Beteiligten dieses konkrete Ergebnis eigentlich nicht. Aber sie wissen, dass unter den gegebenen Umständen im Kompromiss ein tragfähiges und damit durchsetzbares Ergebnis liegt. Nur ein schlichtes Beispiel: Ein Ehepaar plant zwei Wochen Urlaub. Sie will ans Meer, er will an die Berge. Nur ein Plan lässt sich zeitlich und finanziell verwirklichen. Wie sähe ein Kompromiss aus? In diesem Jahr fahren sie ans Meer, im nächsten Jahr geht es in die Berge. In der Zeitachse kann jeder um die Hälfte nachgeben, dann setzt jeder seinen Willen zu 50 Prozent um, und der Ehefrieden bleibt erhalten.

In Wirklichkeit wollen alle Beteiligten zumindest teilweise etwas anderes. Von dem einen mehr, von dem anderen weniger oder vielleicht überhaupt nicht das eine oder das andere, sondern etwas Drittes, eine weitere Alternative oder eine Variante. In der Sache wird der Kompromiss daher einerseits beschlossen und durchgesetzt, aber alle dürfen an seiner Überwindung und Abänderung arbeiten. Man muss den Kompromiss gerade nicht inhaltlich billigen, auch wenn man ihn förmlich durchsetzt. Diese potenzielle Distanz zum gefundenen Ergebnis bewältigt einen politischen Spagat: Einerseits wird im Namen aller entschieden, andererseits behält jeder seine Entscheidungsfreiheit. Ein Kompromiss reduziert die Handlungsfreiheit – man ist formal gebunden –, aber er beseitigt nicht die Willensfreiheit – man kann ihn deshalb trotzdem inhaltlich infrage stellen und an seiner Überwindung arbeiten. Kompromisse befeuern den politischen Wettbewerb, gerade weil sie keine Konsense sind, sondern nur auf Zeit geschlossen werden, immer ein Verfallsdatum in sich tragen, auf Veränderung oder Verbesserung gerichtet sind. Kompromisse erzeugen daher Pluralismus, während Konsense Pluralismus reduzieren.

Unter der Herrschaft von Kompromissen sind daher alle freier, obwohl alle weniger bekommen, als sie wollen.9 Das mag paradox klingen. Man stelle sich aber vor, man müsste die Ergebnisse eines Kompromisses als Ausdruck der eigenen Willensfreiheit billigen. Das bewirkte nur eine permanente Unzufriedenheit mit dem politischen System. Leider glauben viele, demokratisch sei etwas erst, wenn sie selber zugestimmt haben, wenn sie das Ergebnis also selber teilen. Konzeptionell wäre das allerdings ein Vertrag, nicht jedoch eine Herrschaftsform, die alle einbezieht. Die Idee, ein demokratisches Optimum sei erreicht, wenn alle zustimmen, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch unfreiheitlich.

Erhöhung und Begrenzung der Kompromissfähigkeit

Kompromisse pflegen durch Repräsentanten ausgehandelt zu werden. Erst durch Repräsentation lassen sich Minderheiten und Mehrheiten erkennen.10 Im politischen System sind die Akteure des Kompromisses Vertreter: Mandatsträger der Parteien und Fraktionen, Abgeordnete als Vertreter des Volkes. Das Einschalten von Repräsentanten in die Kompromissbildung bringt Vorteile. Repräsentanten verfolgen mit der Repräsentation typischerweise keine eigenen Interessen, sondern vertreten die aggregierten Interessen anderer. Schon die Aggregation von Einzelinteressen zu kollektiv vertretbaren Interessen bewirkt eine Entemotionalisierung und Generalisierung dieser Belange, was sie auf einer politischen und sozialen Ebene diskutierbar werden lässt. Interessen können dadurch die Sphäre des Eigeninteresses verlassen und sich als allgemeine Belange präsentieren, die zum einen von der (aufgrund des Relativismus) geschuldeten grundsätzlichen gegenseitigen Wertschätzung und zum anderen von der durch Verallgemeinerung erzielten Abwägbarkeit profitieren.

Formierung und Aggregation setzen Repräsentanten voraus. Würde der Einzelne seine Interessen vertreten, wäre die Frage des Nachgebens wieder eine Frage der inneren Glaubwürdigkeit, die sich moralisieren ließe, was Kompromisse psychologisch erschwert. Repräsentanten können mit Interessen demgegenüber leidenschaftsloser umgehen, was ihrer Abwägung mit anderen Interessen (mögen es andere der eigenen Klientel oder solche der anderen Gruppen sein) zuträglich ist. Solche gruppenbezogenen und gruppenübergreifenden Abwägungen könnte ein Einzelner vor dem Horizont seiner subjektiven Interessen kaum treffen – man verlangte sonst von ihm eine Doppelrolle, die in der einen oder anderen Rolle einen Konflikt auslöste. Repräsentation ist daher eine Technik, die die Willens- und Handlungsfreiheit des Repräsentierten absichert. Würde er selbst entscheiden, verlöre er jedenfalls die Distanz zu seiner Entscheidung, er müsste sie billigen und könnte sich insofern nicht mehr ungebunden, also nicht mehr frei verhalten.

Das Einschalten von Repräsentanten ist daher ein Faktor, der das Aushandeln von Kompromissen begünstigt: Die Belange werden durch sie diskursfähig aufbereitet, sie können in der gruppeninternen wie in der gruppenübergreifenden Verhandlungsposition gegeneinander und miteinander abgewogen werden, was essenzielle Voraussetzungen des gegenseitigen Nachgebens sind. Repräsentanten können auch Paketlösungen schnüren, um punktuelle Konflikte durch die Einbeziehung weiterer Aspekte zu lösen, weil der Bereich, in dem nachgegeben werden kann, damit erweitert wird. Im Abstimmungsprozess verwandeln sich die ursprünglichen Interessen von Individuen oder Gruppen und stellen nun ihrerseits Kompromisse dar, die weiteren Kompromissen dienen. Die Interessen wurden in eine strategisch-taktische Form gebracht, die zwar nicht mehr unmittelbar den ursprünglichen Einzelinteressen entspricht, dafür aber politisch durchsetzungsfähiger ist.

Die Kompromissfähigkeit wird sodann durch die Legislaturperioden erhöht. Jede Neuwahl führt unweigerlich zu neuen Mehrheiten, was die Verhandlungspositionen der Minderheiten als Bedingung für ihre Akzeptanz neu arrondiert. Durch die Begrenzung der Majoritätsverhältnisse auf Zeit kann prinzipiell jeder Kompromiss, so sich sein Gegenstand nicht erledigt hat, neu verhandelt werden. Er ist nicht in Stein gemeißelt, was ja auch eine Bedingung für seine Akzeptanz war.

Es lassen sich noch weitere Faktoren benennen, mit denen die Kompromissorientierung eines politischen Systems erhöht werden kann, etwa Konfliktthemen aus einer moralischen Zuordnung herauszunehmen und sie stattdessen zu politisieren. Wird ein Thema zu einer Gewissensfrage, zu einer Glaubensfrage oder berührt es gar die Identität, so dürften Kompromisse ausgeschlossen sein. Gläubige zu einem Kompromiss zu zwingen dürfte an Missionierung erinnern. Erlaube ich meinem Gewissen Kompromisse, muss ich mich selbst für charakterlos halten. Identität bezeichnet einen Bereich des Unverfügbaren, der ein Nachgeben schon deswegen nicht ermöglicht, weil man seine Identität nicht durch Willens- und Handlungsfreiheit verändern und deswegen auch nicht nachgeben kann, selbst wenn man die Bereitschaft dazu hätte.

Es ist für eine politische Ordnung deshalb nie sinnvoll, gesellschaftliche Konfliktfelder zu Glaubens- oder Gewissensfragen zu erklären oder als Identitäten zu verhandeln. Wer eine Identität reklamiert, verlangt von seinem Gegenüber einen Respekt, über den gerade nicht verhandelt werden kann. Das aber bedeutet: Je mehr Identität in einer politischen Ordnung reklamiert wird, desto brüchiger wird die Akzeptanz der Demokratie und desto unfreiheitlicher wird die politische Ordnung, weil beide Kompromisse voraussetzen. Identitätsdiskurse sind daher tunlichst zu vermeiden – auch wenn das nicht dem Trend der Zeit entspricht.

Ebenso kontraproduktiv ist es, Themenbereiche aus der politischen Verhandelbarkeit auszunehmen, indem man sie konstitutionalisiert, also einer verfassungsrechtlichen Determination zuweist. Das ist etwa die Konsequenz, wenn Freiheiten zu einem Teil der Menschenwürde gezählt werden. Die Menschenwürde gilt absolut, sie ist nicht abwägbar und blockiert deshalb notgedrungen jeden Kompromiss. Aber auch das Verlagern von Themenfeldern auf die verfassungsrechtliche Ebene engt den Spielraum von Kompromissen ein und erschwert dadurch die Akzeptanz und Stabilität einer demokratischen politischen Ordnung. Über die Frage der Staatsverschuldung sind dann plötzlich keine Kompromisse mehr möglich, oder man muss eine Karlsruher Entscheidung einholen, um den Bereich des Kompromisses auszuloten, was ihn dann schon aus Gründen der Zeitverzögerung als Handlungsoption ausscheiden lassen wird.

Umgekehrt enthält die Verfassung aber auch kompetentielle, institutionelle und verfahrensorientierte Grundregeln, die Kompromisse fördern, wenn nicht gar als verfassungsrechtlich gewolltes Handeln erzwingen. Grundrechte fungieren als Abwägungsstoppregeln und sichern Minderheitenrechte, die keine politische Mehrheitschance besitzen. »Gruppifizierte Grundrechte« können aber auch als Partizipationserzwingungsrechte eingesetzt werden, denn sie liefern potenzielle Stoppregeln. Man kann mit ihnen die politische Verhandlungsposition verbessern und auf Kompromisse Einfluss nehmen, selbst wenn man nicht Teil der Mehrheit ist. Der Föderalismus sorgt für eine Versiebzehnfachung der Entscheidungsarenen, was unweigerlich zu einem Wettbewerb der Kompromisse führt (wie wir es etwa im Sicherheitsrecht beobachten).

Schließlich errichtet das Grundgesetz Gegenöffentlichkeiten, man denke an Medien, Wissenschaft, Kirchen, Geldpolitik, Tarifpolitik. Sie wirken auf die demokratischen Mehrheitsbildungen und Kompromisse ein. Sie schirmen diese Gegenöffentlichkeiten von den Mehrheiten und den Kompromissen aber auch ab. Weite Themenbereiche unterliegen nicht der demokratischen Legitimation. Hier wird nach anderen Handlungsrationalitäten entschieden. Es entscheiden keine Mehrheiten, die sich aus Kompromissen zusammensetzen. Die Kultur des Kompromisses setzt daher eine verfassungsrechtliche Grundverteilung der Bereiche voraus, über die nicht mehrheitlich entschieden werden soll. Und diese verfassungsrechtliche Grundverteilung setzt eine politische Grundverteilung voraus, welche Themen dem Kompromiss entzogen werden, indem sie privatisiert oder konstitutionalisiert werden. Auf diese Weise werden sowohl die Reichweite als auch der Spielraum von Kompromissen selbst zum Gegenstand von Kompromissen.

1

Zur demokratischen Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips vgl. Werner Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie. Grundlagen – Struktur – Begrenzungen. Berlin: Duncker & Humblot 1983.

2

Zur Förderung von Kompromissen durch das parlamentarische Verfahren und einer daraus abgeleiteten Rechtfertigung des Majoritätsprinzips vgl. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie. Tübingen: Mohr 1929.

3

Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren [1969]. Frankfurt: Suhrkamp 1983.

4

Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre [1925]. Tübingen: Mohr 2019.

5

Beispiele dafür bei Véronique Zanetti, Spielarten des Kompromisses. Berlin: Suhrkamp 2022.

6

Von der Trennbarkeit guter Kompromisse von faulen, moralisch nicht zu rechtfertigenden geht auch Avishai Margalit aus (Über Kompromisse und faule Kompromisse. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Berlin: Suhrkamp 2011).

7

In anderen Ländern ist das umgekehrt. Für die Haltung in den Vereinigten Staaten vgl. etwa Eduard Baumgarten, Von der Kunst des Kompromisses. Studie über den Unterschied zwischen Amerikanern und Deutschen. Stuttgart: Hirzel 1949.

8

Anders argumentiert hier die Diskurstheorie, die Konsense herstellen will. Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskustheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt: Suhrkamp 1992. Die von ihr bezweckten vernünftigen und fairen Ergebnisse sind konsensfähig, weil sich der Konsens auf die rechtsstaatlichen und demokratischen Ausgangsbedingungen (Diskursregeln) erstreckt. Deshalb rechnet sie mit einer »höherstufigen Intersubjektivität von Verständigungsprozessen« – eine Eigenschaft, die Kompromisse weder erreichen werden noch sollen.

9

Zur Rechtfertigung des Majoritätsprinzips aus dem Gedanken der Freiheit und des Kompromisses vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre.

10

Vgl. Hasso Hofmann /Horst Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz. In: Hans-Peter Schneider /Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: de Gruyter 1989.