Heft 910, März 2025

Die neue literarische Öffentlichkeit

Zum Stand eines Strukturwandels von Gerhard Lauer

Zum Stand eines Strukturwandels

Die Frankfurter Buchmesse hat 2024 die mehr als 8000 Quadratmeter Ausstellungsfläche umfassende Eingangshalle 1.2 für eine Literatur reserviert, von der selbst in der Buchbranche viele bislang nicht so genau wussten, was das ist: Young Adult, New Adult, Romantasy, Sport Romance, Dark College. Die Verlage heißen hier Drachenmond und Sternensand, Wondaversum, Federherz oder Bücherbüchse, die Einbände sind gern in Gold, Blau oder Rosa gehalten, die Autorinnen sind jung und waren bis vor kurzem unbekannt, wie Sarah Sprinz oder Mona Kasten. Und sie reden viel über »tropes« und »shipping«. Über den jüngsten Regency-Trend oder Schulungen in »spicy« Schreiben wussten bis dahin eher Modezeitschriften, aber kaum ein Feuilleton Bescheid. Mit der Entscheidung, diesem sehr speziellen Segment so viel und zugleich einen derart prominenten Platz einzuräumen, folgte die Messeleitung keinen genuin literarischen, sondern letztlich ganz prosaischen Kalkülen. Sie reagierte damit zeitverzögert auf die Überfüllung der deutlich kleineren Halle 3 im Jahr zuvor, als Hunderte Fans stundenlang anstanden, um ein limitiertes Farbschnittexemplar zu kaufen, eine Lesung zu hören, Selfies mit den Stars aufzunehmen und Autogramme zu sammeln.

Auf dieses massive Publikumsinteresse war die Buchwelt nicht vorbereitet, und man tut ihr sicher kein Unrecht, wenn man feststellt, dass sie noch immer damit fremdelt. Bei den zahlreichen Leserinnen und Lesern dieser aus Sicht des etablierten Literaturbetriebs eher wunderlich anmutenden Genres handelt es sich schließlich um Menschen ohne jede Anbindung an dessen Institutionen oder auch an die Literaturkritik. Keine Programmleitung eines Verlags, kein Feuilleton hat hier die Trends vorgegeben. Vielmehr haben junge Köpfe nicht zuletzt auch die Quarantäne-Restriktionen der Covid-19-Pandemie dazu genutzt, Erzählmuster zu erfinden, die niemand im Kulturbetrieb auf dem Zettel hatte. Dass deren Erfolg viele dort überrascht hat, ist kein Wunder. Zumal es sich hier im Sinne Bourdieus um eine »illegitime Kunst« handelt, »un moyen art«, alltägliches Schreiben von jederfrau und jedermann, in aller Regel ohne autonomieästhetischen Anspruch, häufig auch ohne jegliche Anbindung an künstlerische Traditionen. Einem Milieu, in dem es als selbstverständlich gilt, dass man sich mit Büchern primär ihres literarischen Werts wegen beschäftigt, fällt es naturgemäß schwer, zu akzeptieren, dass ausgerechnet ein derart kunstfernes Produktsegment vom Betrieb auf einmal mit so viel Aufmerksamkeit bedacht wird, so sehr dies ökonomisch gerechtfertigt sein mag. Schließlich wären dessen Bilanzen ohne die dort erwirtschafteten Zuwachszahlen schon länger rückläufig. Die golde-nen und hellblauen Bücher zählen, und sie zahlen auf die Konten der Buchbranche ein.

Weint um Eure Bücher!

Dass gerade diese illegitime Kunst das Kulturgut Buch repräsentiert, irritiert nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der intellektuellen Gewohnheit, die Struktur der Öffentlichkeit entlang der Entwicklung des Leseverhaltens zu diskutieren. In dieser vor allem von Jürgen Habermas geprägten Tradition wird die literarische Öffentlichkeit als die bessere, politische Öffentlichkeit der Experten begriffen, in der Fachwissen auf Seiten der Kritik wie der Literatur zählt. Diesem Selbstverständnis nach ist die literarische Öffentlichkeit eine hierarchisch strukturierte Öffentlichkeit, die zwischen der privaten Lebenswelt und der öffentlichen Sphäre angesiedelt ist und auf die Ordnung ihrer Gegenstände achtet.

Hier ist sortiert, was als hohe und gute Literatur gilt und was als populäre Unterhaltung abgewertet wird und dass ein ästhetisch-formaler Lesemodus angemessener sei als einer, der sich auf Handlung, Aktualität und Spannung konzentriert. Akteure und Institutionen haben sich meist über Jahre hinweg ihren Status erkämpft, um zu regeln, wer wie über Kunst und Literatur sprechen darf und welche Verhaltensweisen als gebildet und damit für die Strukturierung der Öffentlichkeit als tauglich gelten. Verlage und andere Institutionen der Literaturkritik entscheiden über den Zugang zu dieser Öffentlichkeit der Gebildeten. Öffentlichkeit erwächst aus dem hochstrukturierten Feld der kulturellen Distinktionen. Nur zu offensichtlich hat sich die größte Buchmesse der Welt mit der Halle 1.2 nicht an die dort etablierten Regeln und Distinktionen gehalten. Und sie ist damit längst nicht mehr allein. Einflussreiche Literaturkritiker wie Denis Scheck oder Volker Weidermann haben begonnen, nun auch New-Adult-Romane zu rezensieren. Eingeführte Verlage gründen Imprints, um die illegitime Kunst unter weniger traditionsbeladenen Namen zu kommodifizieren. Die Buchwelt än-dert sich.

Sie ändert sich rasch, und das vom Rand des Betriebs her, Veränderungen, die alle nicht so recht zum Selbstverständnis der literarischen Öffentlichkeit und ihrem Topos vom Ende des Buchs und des Lesens passen wollen und die doch alle mehr oder minder ausgeprägt von einer anderen als der uns vertrauten literarischen Öffentlichkeit zeugen. Da schreibt während der Pandemie die junge, auf Instagram schon bekanntgewordene russisch-britische Dichterin Arch Hades ein fünf Cantos umfassendes Langgedicht Arcadia. Sie spricht das Langgedicht mit ihrer eigenen Stimme ein und gewinnt den argentinisch-spanischen Künstler Andrés Reisinger für eine musikalisch-visuell abstrakte Illustration, um dann das Gesamtkunstwerk mit einem Non-Fungible Token versehen bei Christie’s für mehr als eine halbe Million US-Dollar zu verkaufen: das teuerste Gedicht der Weltgeschichte. Nur Christie’s ist als Gatekeeper noch dabei, ansonsten fehlen die etablierten Instanzen des Literaturbetriebs. Da ist der vielschreibende und vielgelesene High-Fantasy-Autor Brandon Sanderson, der sich für seine Bücher wie The Way of Kings so aufwändige Ausstattungen wünscht, dass er dafür eigens eine Crowdfunding-Kampagne gestartet hat, die am Ende mehr als fünf Millionen Dollar erbrachte. Mit der noch erfolgreicheren nächsten Kampagne hält er derzeit den Einnahmerekord für Kulturprojekte auf der Plattform.

Da ist die deutsche Autorin Nele Neuhaus, die zunächst im Selbstverlag ihre Kriminalromane veröffentlicht hat, bevor Verlage auf sie aufmerksam wurden. Inzwischen zählt sie längst zu den vertrauten Namen auf den deutschen Bestseller-Listen, wie auch Poppy J. Anderson, die mit den ersten der am Ende siebzehn Bände ihrer Sport Romance »Titans of Love« zur ersten Amazon-Millionärin auf dem deutschen Buchmarkt wurde. Dazu die Aschenputtelgeschichte der sechzehnjährigen Sarah J. Maas, die bis heute mehr als 25 Millionen Exemplare ihrer »Throne of Glass«-Serie verkauft hat, die enormen Erfolge von Rupi Kaur, E. L. James oder von Mona Kasten, Gillian Flynn oder Paula Hawkins: In einer ersten Näherung kann man von einer Popindustrialisierung der Buchkultur sprechen, die einige wenige sagenhaft erfolgreich und das Buch zu einem Fan-Objekt gemacht hat. Von einer Kultur der Bookishness ist daher zu Recht die Rede – ihre Akteure sind Fans und ihre Institutionen sind digitale Plattformen.

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