Die Philosophie in der Pandemie – ein Totalausfall
von Benjamin BrattonErneut rollt eine Infektionswelle durch die Welt und bringt Unerfreuliches wie die Einführung von Impfpässen mit sich, während die Gesellschaft von einem leider nur allzu bekannten Zusammenschluss aus Uninformierten, Falschinformierten, Fehlgeleiteten und Misanthropen in Schach gehalten wird. Sie sind es, die die Impfpässe, die eigentlich niemand will, zu einer Zwangsmaßnahme machen, um die wir wohl kaum noch herumkommen werden. Ohne ihren Lärm und ihren Narzissmus wären die Impfraten so hoch, dass es die Pässe vielleicht gar nicht bräuchte.
Doch es ist nicht einfach der »Pöbel«, der uns in diesen traurigen Schlamassel hineingeritten hat, auch einige Stimmen aus den oberen Rängen der akademischen Welt haben ihren Anteil daran. In dieser Pandemie, in der die Gesellschaft so verzweifelt nach Positionen verlangt hat, die das große Ganze im Blick haben, hat die Philosophie versagt – in Teilen durch Unwissenheit oder Inkohärenz, in Teilen durch kaum verhohlene intellektuelle Unredlichkeit. Am Beispiel des italienischen Philosophen Giorgio Agamben wird deutlich, wie das passieren konnte.
Agamben, bekannt für seine Kritik der »Biopolitik«, verbrachte die Pandemie damit, mehr als ein Dutzend Leitartikel zu veröffentlichen, in denen er sich in einer Weise über die Situation äußerte, die deutliche Parallelen zu rechten (und linken) Verschwörungstheorien aufweist.
In den letzten zwei Jahrzehnten war der Einfluss seiner Schlüsselkonzepte – homo sacer, zoë /bios, Ausnahmezustand usw. – in den Geisteswissenschaften beträchtlich. Er hat viel dazu beigetragen, eine muffige Orthodoxie zu zementieren, die jeden künstlichen regelnden Eingriff in die biologischen Bedingungen der menschlichen Gesellschaft implizit unter Totalitarismusverdacht stellt. Diese Orthodoxie hält sich für »kritisch«, doch ihr Standardansatz gegenüber jeder Biotechnologie besteht meist darin, diese als erzwungene Manipulation der körperlichen Souveränität und der gelebten Erfahrung darzustellen.
Wenn man sich den rechten Radiomoderator und Verschwörungstheoretiker Alex Jones nicht als texanischen good ol’ boy, sondern als Heidegger’schen Seminaristen vorstellt, kommt man dem Selbstverständnis Agambens, mit dem er den Aufforderungen nachgekommen ist, öffentlich zur Covid-19-Pandemie Stellung zu nehmen, recht nahe. Ende Februar 2020 bezeichnete er in einem mit Die Erfindung einer Epidemie betitelten Text das Virus als Schwindel und die verspäteten Abriegelungen in Italien als »techno-medizinischen Despotismus«. In Requiem für die Studenten prangerte er Zoom-Seminare als Unterwerfung unter die Regeln von Silicon-Valley-Konzentrationslagern an (seine Worte). In Das Gesicht und der Tod spottete er über die Verwendung von Masken, die die Menschlichkeit des nackten Antlitzes opferten.
Anfang Juli 2021 ging Agamben dann aufs Ganze und verglich Impfpässe direkt und ausdrücklich mit den Judensternen der Nazis. In einem kurzen Beitrag mit dem Titel Second-class citizens vergleicht er das Schicksal der Impfverweigerer mit dem der Juden im Faschismus und kommt zu dem Schluss, dass »die ›grüne Karte‹ (Italiens Impfpass) diejenigen, die sie nicht haben, zu Trägern eines virtuellen gelben Sterns macht«. Als ich meine Kinnlade soweit möglich wieder hochgeklappt hatte, konnte ich nicht umhin, Agambens Analyse im direkten Vergleich mit jener von Marjorie Taylor Greene zu sehen, der von QAnon beeinflussten US-Kongressabgeordneten, die schon im Mai getwittert hatte, dass »geimpfte Angestellte ein Impf-Logo bekommen, so wie die Nazis Juden zwangen, einen goldenen Stern zu tragen«.
In einem sophistischen Meisterstück nach dem anderen lehnt Agamben ausdrücklich alle Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ab. Die Haltung dahinter ist: »Tradition ja, Modernität nein«, wobei er die Relevanz einer Biologie leugnet, die von den Worten, mit denen sie benannt wird, gänzlich unabhängig, nämlich schlicht real ist. Es mag vielleicht so wirken, als seien in letzter Zeit die Pferde mit Agamben durchgegangen. Aber tatsächlich lohnt es sich, seine Grundlagentexte im Lichte der Pandemie noch einmal neu zu lesen. Denn es handelt sich mitnichten um einen plötzlichen Sinneswandel. Seine Grundpositionen sind immer dieselben gewesen.