Die Prozesse
von Marius GoldhornEzra hat diese Online-Persona, sie heißt Deborn. Er hat mehrere Blogs, er kommentiert alles, er schreibt über alles. Deborn hat kein Gesicht. Früher waren seine Profilbilder Landschaften in Okzitanien, wo es seit einigen Jahren ununterbrochen regnete. Erst nach der Psychiatrie hat er sein Profilbild zum Angelus Novus geändert, ein Gemälde von 1920, halb Kind, halb Menschenfresser.
Früher hatte Deborn über das Sechste Massenaussterben geschrieben, das Artensterben, über das Aussterben der Menschen, eine unbemerkte, surreale Geschichte ohne Struktur, ohne Höhepunkt und ohne Auflösung. Später wurde das Aussterben für ihn zur absoluten Chiffre, zum Geheimnis aller Zustände. Er kam zur Überzeugung, dass das Nachdenken über das Aussterben zum Zentrum unserer Kultur werden müsste. Deborn war der Aussterbe-Engel. Er hatte diese kultartige Anhängerschaft. Online gab es Foren, die versuchten herauszufinden, was Deborn wollte.
Ezra amüsiert das. Er tippt in sein altes Smartphone. Er ist von diesem seltsamen Licht durchbohrt, wenn er schreibt.
Zwei Tage vergingen. Ich spazierte unter einem Regenschirm den Strand entlang, über den harten Sand. Ich besuchte eine Sauna-Landschaft. Ein altes flämisches Ehepaar sprach miteinander, und ich stellte mir vor, wie sich ihre Worte im Wasserdampf auflösten. Ich weiß nicht mehr, was sonst passiert ist. Ich habe keine weiteren Aufzeichnungen von diesen zwei Tagen, keine Fotos, keine Videos, keine Nachrichten, die ich verschickt habe.
Am frühen Morgen des 18. Septembers, ein Mittwoch, kauften wir online Tickets für den ersten Ostende-Brüssel-Express. Ezra bewegte sich etwas umständlich unter dem Hotel-Regenschirm, aber man sah ihm nicht an, dass er fast eine Woche im Bett gelegen hatte. Vor dem Bahnhof von Ostende verteilte eine Frau in einem hellgrauen Mantel rote Mohnblumen aus Plastik. Regentropfen liefen die Gläser ihrer randlosen Brille hinab. Wir nahmen zwei mit, aber ließen sie später im Zug liegen.
Ich sah über die verregneten Wiesen und Felder Flanderns. Mir war kalt, ich atmete und ich war froh. Worüber? Ich liebe Regen, ich liebe das Grün dieser Wiesen und Felder.
Kurz vor der Ankunft am Nordbahnhof kam eine Durchsage, an welchem Schalter man sich melden musste, wenn man Anderlecht betreten wollte.
»Sie scheinen immer noch zu kämpfen«, sagte ich. Ezra nickte. Es war ein Video aus einem Internierungslager in Libyen geschmuggelt worden. Nicht nur in Brüssel hatte es Proteste gegeben, auch in anderen Städten Europas, überall, wo es ging.
»Sie haben es immer noch nicht geschafft«, sagte er. Seit Tagen war Anderlecht abgeriegelt. Autos brannten, das Einkaufszentrum Westland brannte, vermummte Männer auf Motorrollern hatten im Europaviertel verzweifelt Verantwortliche gesucht. Ezra und ich sahen uns eine BBC-Zusammenfassung an.
Wir fuhren langsam in Brüssel ein. Ich sah die Kirchtürme und die Glastürme vor den Friedhöfen, die Stadttore, die Schornsteine, den Rauch, der sich im dunklen Regen ausdehnte.
Im Zug kam die nächste Durchsage, Informationen zur Saison au Congo, einem Stadtfest zum Gedenken an die kongolesische und afrikanische Befreiung vor siebzig Jahren, das am Wochenende beginnen sollte.
»Willst du dahin?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Bea hat mich gefragt, ob wir gehen.«