Heft 867, August 2021

Die Sorge um die Sorgewirtschaft im Globalen Britannien

von Tine Hanrieder

Im Jahr 2018 ging einer der jährlichen Preise für britische Wohltätigkeitsorganisationen, ein Charity Times Award, an The Care Workers’ Charity.1 Die 2009 gegründete Organisation verdankt ihren Platz in der Ruhmeshalle britischer Wohltätigkeit einer einfachen Vision: dass keine Pflegekraft im Vereinigten Königreich allein sein solle in der finanziellen Not. Bei der Care Workers’ Charity können sich Pflegekräfte um Beihilfen zwischen 500 und 2000 Pfund bewerben, wenn sie in eine Krise geraten oder Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Heiz- oder Gesundheitskosten nicht alleine stemmen können. Die Arbeit dieser Organisation ist seit der Preisverleihung nicht weniger wichtig geworden. Zwischen März 2020 und April 2021 hat sie allein aus einem Covid-19-Notfallfonds fast 1,8 Millionen Pfund ausgezahlt, knapp 200 000 Pfund wurden seit Januar 2020 aus dem, nun ja, »normalen« Krisenfonds verteilt.

Mit Emma Dowling ließe sich diese Art von Finanzspritzen für das Pflegeprekariat treffend als eine typisch britische Notregulierung der Pflege beziehungsweise als care fix bezeichnen: als eine der vielen Notreparaturen an einer dauerhaft überlasteten Wirtschaft, in der die Sorgearbeit vorne und hinten nicht reicht, nicht oder schlecht bezahlt ist und zu hohen persönlichen Kosten auf die am wenigsten Privilegierten – Frauen, Migrantinnen, Angehörige von Minderheiten – abgewälzt wird.2 Pflegeheime sind nicht rentabel, Arbeitsplätze unbesetzt, die Finanzierungslücke wird immer größer. Doch keine Regierung will das »Zombie«-Thema Pflege so recht anfassen; ein gescheiterter Versuch Theresa Mays steht noch vielen vor Augen.3

Dowlings Buch ist nur die jüngste einer ganzen Reihe von Publikationen zur Krise der britischen Sorgewirtschaft – Werke, die vor 2020 begonnen und verfasst wurden und in deren Vorworten, Einleitungen und Klappentexten die große Seuche nun als wahrgewordener Alptraum, grimmiges Erweckungserlebnis oder furchterregende Kalamität ihren Auftritt hat. In der einen oder anderen Weise warnen sie alle vor dem Kollaps des gesamten Felds, das im Englischen mit dem Wort care bezeichnet wird: Sorgearbeit von der Pflege bis zur Erziehung, soziale Versorgung vom Gesundheitssystem bis zum öffentlichen Nahverkehr. Sie sprechen über Großbritannien – England, Wales, Nordirland und Schottland –,4 doch nehmen sie, insbesondere im Fall des Care Collective, auch Bezug auf Erfahrungen auf anderen Kontinenten.

Die Bestandsaufnahmen gleichen sich und sind an sich bekannt. Der nationale Gesundheitsdienst NHS ist unterfinanziert und war nie »winterfest«, wie von Boris Johnson einst versprochen, noch weniger hat er sich als pandemiefest erwiesen. Die nichtmedizinische Pflege ist seit der Thatcher-Zeit privatisiert und wird auf Gemeindeebene verwaltet. Die Betreiber sind mittlerweile fast ausschließlich private Unternehmen. Die Dekade der Austerität nach der Wirtschaftskrise 2008 gab den Kommunen den Rest, der Beitrag der Zentralregierung zu ihren Budgets sank von 2010 bis 2018 um die Hälfte.5 Das bedeutete weniger Wohnhilfe, Frauenhäuser oder Jugendarbeit, und immer weniger Pflegeleistungen.

Täglich werden weit über tausend Anträge auf Altenpflege abgelehnt, und wo Pflege stattfindet, ist der Zeitdruck für alle Beteiligten unmenschlich. Freunde, Bekannte, Hilfsorganisationen und immer wieder Frauen fangen ab, was sie können. Alleinerziehende Mütter von Menschen mit Behinderung trifft es besonders hart. Sie begegnen uns in Buntings wie in Dowlings Buch als niedergedrückte und vereinsamte Sorgende im Dauerstress. Sie ringen mit Anträgen und monströser Bürokratie für minimale Unterstützung, haben das Wort Pause verlernt und längst resigniert angesichts schleichender sozialer Ausgrenzung.

Gerade für den Bereich der nichtmedizinischen Pflege ist kein tragfähiges Geschäftsmodell in Sicht. Manche Pflegeunternehmen kollabieren, andere verlassen den Markt, weil sie mit den Mitteln der Gemeinden nicht auskommen. Im Jahr 2019 gerieten die vier größten Pflegeheimbetreiber in finanzielle Schieflage und standen dabei zum Verkauf. Gleichzeitig werden aus diesen Unternehmen pro Jahr geschätzte 1,5 Milliarden Pfund in Finanzkanäle abgeführt, die mit direkter Pflege nichts zu tun haben: Mieten, Zinszahlungen an Mutterfirmen, Dividenden, Gehälter des Top-Managements.6 Auch Vollzeitstellen für Akquise und Rekrutierung gehören dazu, bei der permanenten Jagd nicht nur nach Kundschaft, sondern auch nach Personal. Denn das aussichtslose Streben nach Rentabilität bekommen nicht zuletzt die Beschäftigten dieser Branche zu spüren, von denen wohl mindestens ein Zehntel nicht den Mindestlohn verdient – doch das sind Schätzungen, denn Qualitätsinspektionen sind rar, auch weil man Angst hat, Unternehmen in den Ruin zu treiben.

In der mobilen Pflege sieht das dann etwa so aus: Sprinten von Haus zu Haus, wobei Fahrtzeiten keine Arbeitszeiten sind, 15-Minuten-Besuche bei immer wechselnden Klientinnen, freiwillige unbezahlte Überstunden aus Mitmenschlichkeit, dabei kaum Kommunikation mit Kolleginnen. In London sind 41 Prozent der Pflegebeschäftigten mit den berüchtigten Nullstundenverträgen angestellt: Sie verdienen nur, wenn sie im Einsatz sind. In England liegt der Anteil bei durchschnittlich immerhin 24 Prozent.7 Nirgends ist die Beschäftigtenfluktuation so hoch wie im Pflegebereich – fast die Hälfte aller Pflegenden verlässt jedes Jahr den Job.

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