Heft 853, Juni 2020

Die Sprache unserer Verfassungen

von Michael Stolleis

Verfassungen sind meist feierlich beschlossene und verkündete Texte.1 Sie werden an historischen Wendepunkten von Gemeinwesen verfasst, um die wichtigsten institutionellen Entscheidungen zu treffen sowie Rechte und Pflichten der Bürger festzulegen. In der Pyramide der Rechtsnormen stehen sie »zuhöchst«, also über Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Normen. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert umschließen sie die europäischen Nationalstaaten als normative Hülle. Vorreiter waren die USA (1776) und Frankreich (1789), aber dann erfasste die »konstitutionelle« Bewegung die ganze Welt. Heute gibt es kaum noch Staaten ohne Verfassung. Auch autoritäre, nichtdemokratische Regime verzichten kaum jemals auf den Mehrwert, den eine Verfassung zu vermitteln scheint: Wenn sie schon kein Glücksversprechen enthält und Freiheiten nur verklausuliert gewährt, dann bietet sie wenigstens »Ordnung« und einen institutionellen Grundriss. Auch die unterdrückte Opposition muss sich dort anhören, sie lebe in einem »Verfassungsstaat«.

Über der Pyramide der Rechtsnormen stand noch im 19. Jahrhundert Gott. Der Monarch herrschte »von Gottes Gnaden«, aber auch die Vereinigten Staaten stellten ihre Verfassung unter das Auge Gottes – so ist es bis heute auf dem Ein-Dollar-Schein und dem dort abgebildeten Staatssiegel zu sehen. Und immer noch rufen viele Verfassungen in ihren Präambeln Gott an (Invocatio Dei), auch unser Grundgesetz, und öffnen damit die Fenster zu einer monotheistisch verstandenen Transzendenz.

Die typischen Inhalte von Verfassungen sind seither gleich geblieben: Der feierlichen Eingangsformel, die meist schon eine subtil formulierte Machtstruktur festlegt, folgen die republikanische Staatsform, die Legitimation der Staatsgewalt, die wesentlichen Verfahren der Willensbildung, die Institutionen und die Regularien ihres Zusammenspiels. Durchweg werden Menschen- und Bürgerrechte feierlich gegen Eingriffe abgesichert und entsprechende Verteidigungsmöglichkeiten bereitgestellt, vor allem durch eine unabhängige Justiz.

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